30. September 2015

Insekt am Fenster: lyrische Betrachtungen von euch und mir

Ich war mal wieder eine halbe Ewigkeit nicht hier.

Meine Entschuldigung ist, dass ich in den Kosmos einer Geschichte abgetaucht bin, die ich derzeit schreibe – mit einer Vorgabe von 1000 Wörtern pro Tag. Heute Morgen, als ich weiterarbeiten wollte, habe ich realisiert, dass ich gestern Abend in der Uni-Bibliothek vor Müdigkeit vergessen habe, die aktuelle Version des Manuskripts auf eine Cloud hochzuladen: Jetzt liegt das Manuskript auf einem Computer in der Universität. Und ich liege noch im Bett.

Für Panik um die gestern geleistete Schreibarbeit fehlt mir aber einfach die Energie, es ist sonnig und wohlig hier, ich trage die extra gemütlichen Socken und habe ein Glas kalten Milchkaffee neben mir. Was will man mehr?

Na klar, Gedichte!

Ich habe vorhin ein Gedicht von Seraton im letzten Lyrik-Post entdeckt und war sofort am Haken. Jetzt will ich mehr. Von euch.

Vor einigen Tagen hab auch ich wieder eins geschrieben, das ich mit euch teilen möchte. Der Tod einer Biene (oder Wespe?) war der Auslöser:

DSC_0167

.

.

Insekt am Fenster

 .

Das Flugobjekt, ein Gramm nicht schwer,

liegt still. Die Beine kreuz und quer geknickt,

die Fühler an der Fensterscheibe. Lichtsensoren

spiegeln noch, sie haben kein Verdeck wie Säugetiere

Lider. Noch fällt durch sie ein Bild nach innen, diesen

Rätselbrunnen ohne Grund, wo Milben sich den Bauch

vollschlagen: Geistiges ist nicht zu finden, aber Mineralien

und Protein, um sich zu laben an den ausgeknipsten Kabeln.

(Was heißt schon Geist? Es soll ihn geben in den Wesen,

nicht an Spuren abzulesen, sondern daran, dass sie lesen.)

 .

Reflexe haben hier gewirkt, selbstredend ohne Wissen

von sich selbst (wir wissen das, wir wissen viel) und

keine Grenzen ziehend zwischen Ich und Welt.

Ein Kosmos ohne Schranken, absolut, keine Gedanken.

Nie Vergangenheit. Betraf sie überhaupt die Zeit?

Ergibt es Sinn zu fragen: Was fand die in sich Unbekannte

in ihren Tagen auf der Erde, bevor die Endlichkeit der Stoffe

ihre Allheit auf ein Hirngespinst herunterbrach?

Sah sie das Fehlen eines Auswegs oder immer nur das Positive:

die schöne Wabe Licht im Himmel

hinter unverständlich, undurchdringlich Glas.

 .

 .

Dieses Gedicht quillt nicht so vor Bildern über wie sonst oft bei mir, aber es wäre doch auch langweilig, wenn alles immer gleich bliebe. Was habt ihr in letzter Zeit Neues ausprobiert?

 

Fragt sich:

Jenny

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

13 thoughts on “Insekt am Fenster: lyrische Betrachtungen von euch und mir

  1. Ein vor kurzer Zeit sehr aktuelles und umstrittenes Thema

    Die Reise der Optimisten

    Laufen ohne Ziel
    Laufen, um Vergangenes zu vergessen
    Laufen mit Ziel etwas hinter sich zu lassen
    Laufen mit vagem Ziel und zu großer Hoffnung.

    Warten auf nichts
    Warten auf irgendetwas
    Warten mit der Hoffnung die Zeit vergehe schnell
    Warten auf eine gute Nachricht, auch wenn es lange dauert.

    Vernarrt sein
    Vernarrt in etwas sein
    Vernarrt an etwas festhalten
    Vernarrt auf etwas hoffen, was nur einigen wenigen widerfährt.

    Am Ziel sein
    Am Ziel sein und erleichtert ausatmen
    Am Ziel sein und sich freuen ohne zu wissen, was dann passiert.
    Doch erstmal ist man am Ziel.

    1. Hallo Raya!
      Dein Gedicht nimmt mich sehr mit und stimmt mich beklommen. Es beschreibt ja nicht nur das Schicksal so vieler aktuell Heimatloser, sondern irgendwie das menschliche Dasein überhaupt. Immer ist es ein Vorwärtsstreben (“Laufen”), ein Empfangenwollen (“Warten”), eine Obsession, ein Heilsbegriff (“Vernarrtsein”) und dann – ein Ziel, das aber nur Ausgangspunkt desselben Zyklus von Neuem ist. Ein philosophisches Gedicht. Gefällt mir wirklich sehr gut!

  2. Spinnenbein

    Jetzt bist du Staub.
    Ich feg dich mit den Schuppen raus,
    und Haaren,
    bist wie Laub,
    in einem Blätterhaus
    die golden waren.

    Erstarrt, und deines Zeichens: Moder.
    Es folgen alle Helden dir,
    wie Schuppenspiele:
    Ich liebe heut noch, wo der
    Strahl der Sonne fällt, hier
    fallen viele.

    1. Das hat mich sehr beeindruckt. Reimt sich sogar, auf vertrackte Weise (obwohl “Moder” und “wo der” vom Klang her nicht ganz übereinstimmen, hier wäre vielleicht das Wörtchen “oder” besser gewesen, das man dann aber hätte wieder in den Sinn reinfriemeln müssen…) – und korrespondiert ganz vorzüglich mit Jennys Bienengedicht. Der Ort des Sterbens liegt erstaunlich oft im Licht, nicht verkrochen in einem Winkel. Starke Leistung, Amonynous.

      T

      1. Ja, mich auch. Bin froh das so hingekleckst zu haben!!! :)

        Bin ja auch n superguter Dichter, hahaha, aber ist immer schön,
        wenn sowas so spielerisch… gelingt. Ja, ich konnte “oder”
        irgendwie nicht überzeugend unterbringen, aber “wo der”
        ist eben wiederum spielerisch, ein Kokettieren mit dem Tod,
        mit allen Toden, auch mit dem eigenen, ich meine, Jenny ist ja
        jetzt nicht die Auserwählte, nur weil sie ne tote Biene gesehen hat,
        tote Spinnen, so seltsam verrenkt, und berührst du sie,
        zerfallen sie wie Mumienstaub oder so, staubtrocken eben und verrenkt,
        Jeder von uns hat das ja schonmal am Rande seiner Agonie bemerkt,
        schätze ich, wo Lebendigkeit und Agonie sich begegnen:

        Liebt euch, ihr Stürmischen!
        Dreht euch im Reigen!
        Es türmen sich trunkene Tode
        die sich Lebendigen zeigen.
        Und spielen so lachend die Ode:
        Am Ende ist Schweigen.

        Aha. Was du nicht sagst! Grompfl. :)

        1. Ich habe oberhalb vom Mensch-Gehäuse
          da in Attrappen-Funkantennenhausen
          fett den Arschvoll -Kopfvoll- Scheisse-Läuse
          die da Junge kriegend scheissend lausen.

          Zumindest Eine -jene Erste- als sie starb
          da fiel sie tief so endlich! am Versiegen
          doch müsste sie am nächsten Tag
          ja noch irgendwo am Boden liegen.

          Ich sah sie oft -so aus den Augenwinkeln-
          am Schläfenabgrund Eine rauchen
          und feixend mir ins Auge pinkeln
          und seufzen “Das wollt ich jetzt brauchen”.

          Doch jetzt so auf dem Teppichgrunde
          und um das scheiss Verrecken nicht
          find ich den Leichnam dieser Gott-Sekunde
          und sowas spuckt mir ins Gesicht!!!

          1. Hallo Amonynous!

            Woah, die volle Ladung Körperausscheidung. Finde ich absolut gerechtfertigt in diesem Gedicht! Ich verstehe nicht richtig und verstehe doch mehr, als da steht. Genau so sollen Gedichte sein! Klasse. Mehr? :D

          1. Ja, irgendeine Jenny wird wohl die Auserwählte sein… :)

            Es hetzte einst ein Köter klein
            so notgedrungen und verbissen,
            o grosse Himmelskreuzung mein,
            du Auserwählte! und hat da drauf geschissen…

            o grosser Gott ihr blöden Sterne
            hetzte er ein weitres Mal,
            und fand die auserwählteste Laterne
            und winselte sehr emotional.

            Auserwählt zu sein, welch grosse Ehrne,
            sorgt leidlich für Verdruss,
            sprach Gottes schönsteste Laterne,
            wenn ein Köter an dich pinkeln muss.

            :)

  3. In Ermangelung eines aktuellen Gedichts, hier mal eine Kurzgeschichte:

    Fedriger Staub löst sich aus dem Wollknäuel zu meinen Füßen, strebt aufwärts, getragen von unsichtbaren Winden, glüht einen Augenblick im Sonnenlicht auf, sinkt herab und vereint sich schließlich mit der wattegrauen Schicht, die nach und nach auf dem Boden anwächst, ihn überzieht, ihn unter seinem alltagsfarbenden Mantel verbirgt bis niemand mehr wirklich sagen kann, ob noch etwas anderes existiert als grauer, fedriger Staub, unter dem sich alles und nichts verbirgt. Der Schaukelstuhl schwingt träge dem Zwielicht entgegen: Vor, zurück. Vor, zurück.

    Frühjahrsputz. Zeit, den Staub von den Freuden des Lebens zu kehren und das alte Ich in den frischen Farben der ersten Sonne zu kleiden. Zeit, sich neu zu erfinden, ein völlig neuer Mensch zu werden; Zeit, zu Atmen. Wiedereinmal. Und im blassen Licht der ersten und letzten Sonne zu erkennen, dass das Leben kein Kreislauf ist. Wiedereinmal. Dass die Erinnerung tatsächlich mehr wird, und die weißen Flecken auf der Landkarte kleiner, und dass bald nur noch die farbigen Linien da sein werden, ohne Raum für Fantasie. Dass jede Erkenntnis schon einmal gewonnen, jeder Gedanke schon einmal gedacht, jedes Ich schon einmal erfunden sein wird – Menschlichkeitszenit – und nichts ist wirklich neu. Staub steigt auf von dem träge sich drehenden Wollknäuel zu meinen Füßen, und die fremden, alten Hände in meinem Schoß arbeiten wie von selbst, halten Schlaufen fest und Auswege offen und der Schaukelstuhl gibt schwankend den Takt an für den Rhythmus der Zeit: Vor, zurück. Vor, zurück.

    Und dann, wenn du dich öffnest für diesen allumfassenden Gedanken, wenn du kurz davor stehst, zu begreifen, was Zeit, was Leben eigentlich bedeutet, ist es soweit, und du kannst die arbeitenden Hände in deinem Schoß beobachten, ahnend, wissend was folgen wird. Und du wirst meine Augen schließen. Aus dem fedrigen Staubknäuel zu deinen Füßen stricke ich mir meine Fesseln, stricke ich mir meinen Strick und ich spüre diesen ruhigen, weichen Takt in der Staubschicht zu meinen Füßen vibrieren, der dem Alles und dem Nichts seine Richtung gibt und ich warte, warte ab, auf das, was als nächstes kommt. Vor, zurück, vor, zurück, wiege ich mich in der Leere.

    Die Staubschicht um mich herum, eine dumpf-wattige Graudecke, verglühend in der Sonne von Morgen. Die Hände, meine Hände, sie verstricken Ausweg mit Ende, Leben mit Leben langsam zu einem, meinem Grabtuch und dann, wenn die wollige Staubdecke, die staubige Wolldecke dir, mir fast bis zum Hals reicht und du, ich plötzlich erkennst, wie golden der Staub glüht in der auf-untergehenden Sonne, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und aufzugeben und im erstickten schweigen des Endes zu beklagen, was du verpasst hast. Und vor, zurück, vor, zurück schwingt der Schaukelstuhl, ein manisches Schluchzen und Weinen und Wiegen; ewiges, gefühlloses Uhrwerk der Zeit.

    1. Hallo Lissa!

      Aiaiai, das ist auch ganz schön depressiv. Aber wer hat nicht schon einmal den Leerlauf des Lebens empfunden? Nur komische Leute, würde ich sagen.
      Interessant, wie das Du und Ich ineinander gehen. Aber darin sehe ich auch eine (philosophische) Gefahr, denn das Ich proklamiert mit dem Du eine Allgemeingültigkeit; alle Ichs sind und fühlen so, auch das Du. Das Subjektive macht sich objektiv und ist damit irgendwie in einer äußeren Sphäre, nicht mehr bei sich.
      Und dann ist das Elend “was du verpasst hast” im vorletzten Satz. Das ist eine Außenperspektive auf das eigene Leben. Ich glaube aber, fast jedes Leben ist von außen betrachtet irgendwie traurig, unfertig, mangelhaft – voller verpasster Chancen. Das Elend, von außen erbärmlich und leer zu wirken, ist selbst nur ein äußeres Elend und nagt doch eher an der eitlen Hülle eines Menschen als an seiner Seele.
      Andererseits möchte ich den Druck, eine gelungene LebensGESCHICHTE zu haben, keinesfalls auf gesellschaftlichen Druck oder gar Eitelkeit reduzieren. An Gott zu glauben, an die Sinnhaftigkeit der Welt, erfordert geschichtliches Denken. Eine Außenperspektive auf sich selbst einzunehmen hat also auch etwas mit Moral zu tun.
      Schwieriges Thema! Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt. Deine Geschichte regt auf jeden Fall zum Nachdenken an! Nächstes Mal musst du trotzdem wieder ein Gedicht liefern … oder ich mache mal einen Kurzgeschichten-Post. :D

      Jenny

  4. Hallo Jenny!

    Das Gedicht habe ich vor drei Tagen geschrieben. Es ist ein bisschen düster, aber gefällt dir hoffentlich trotzdem :)
    Schau gern auf Facebook vorbei, wenn du mehr lesen möchtest.

    Liebe Grüße
    Sorai

    SCHERBENWELT
    (27.09.15)

    Bitter. Bizarr.
    Da hab ich mich achtlos von diesem prunkgeschmückten Spiegel
    So täuschen, mich so verblenden lassen.
    Mein eigenes Bild,
    Es ist mir nie gezeigt worden. Der Spiegel hat Risse getragen,
    Doch sein Licht, das schien mir zu verblassen.
    Aber diese Risse,
    Kreuz und quer, wie Narben haben sie sich über mein Abbild gelegt,
    Dennoch haben sie nicht zu mir gehört.
    Dieser Klang,
    Der hell gläserne Klang, wenn ich gegen den Spiegel gestoßen bin,
    Das hat mich nicht gestört.
    Warum die Idee,
    Die Narben zu testen, die Risse zu ertasten, nicht in meinen Sinn kam.
    Ich weiß es nicht.
    Stur ist mein Blick,
    Mich sieht doch eine starke, schöne junge Frau an aus diesem Spiegel,
    Doch das bin nicht ich.
    Jetzt sehe ich.
    Der Spiegel ist gefallen, in Scherben zersplittert er, habe ich gedacht.
    Er ist ganz geblieben.
    Weil die Narben,
    Die mein Abbild so spärlich nur verdreckt haben, nicht seine gewesen sind.
    Sie sind verschieden.
    Keine Scherben,
    Kein einziger Splitter liegt vor mir. Ich beuge mich über den Spiegel
    Und sehe mein Antlitz.
    Ich bin starr.
    Getroffen von meinem Anblick, getroffen von der Lüge, tief getroffen
    Wie vom Blitz.
    Wie konnte ich
    So blind sein? Die Narben, die mir des Spiegels gewesen zu sein schienen,
    Sind tatsächlich meine.
    Ich stehe hier,
    Entsetzt von meiner Blindheit, geschockt von der Wahrheit. Ich stehe hier
    Momentan alleine.
    Der Spiegel,
    Der mich so gut hat fühlen lassen, der so konstant meinen Traum gezeigt hat,
    Hängt nicht mehr.
    Er ist gefallen.
    Er gibt keine Liebe mehr, keinen Schutz mehr. Meine gefälschten Stärken
    Gibt er nicht her.
    Er richtet mich,
    Richtet meinen Blick nach oben. Er zeigt mir nun ganz unverblümt,
    Was mich hält.
    Die seidenen Fäden
    Fallen lautlos zusammen. Und was mich bis jetzt so treu getragen hat,
    Ist nun eine Scherbenwelt.

    1. Hallo Sorai!

      Ach, so düster finde ich das gar nicht. Selbsttäuschung zum eigenen Vorteil gehört zu den Alltagssünden, würde ich sagen. ^^
      “Die seidenen Fäden / falle lautlos zusammen” gefiel mir am Besten. Ich finde, damit könnte das Gedicht sogar enden, denn die “Scherbenwelt” am Ende sagt eigentlich nur noch das Offensichtliche. In einem Gedicht würde ich aber gerade alles weglassen, was weggelassen werden kann. Das heißt es ja, zu dichten – man verdichtet etwas auf das Wesentliche.

      Jetzt schaue ich doch gleich mal bei Facebook vorbei. :)

      Jenny

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