4. Juli 2021

Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

Kapitel 4 – 5

Schönen Sonntag allerseits! Ich hab mich schon die ganze Woche auf die Fortsetzung und euer Feedback gefreut. Seid ihr alle bereit, habt ihr Kaffee, ein Croissant griffbereit, liegt ihr gemütlich im Park? Dann taucht ab in Kanemôs Welt … Viel Vergnügen wünscht euch hinter einem anderen Bildschirm eure Jenny.

*

*

4.

„Es gibt heute kaum noch reinblütige Zwerge“, erwiderte Sagrik leichthin. „Mein Vater war ein Mischling, meine Mutter war wahrscheinlich rein menschlicher Abstammung. Sicher weiß ich es nicht.“

Kanemô wusste kaum etwas über das Kleine Volk. Trotzdem – oder gerade deshalb – veränderte sich ihr Blick auf Sagrik. Bei Zwergen musste sie an ein sagenumwobenes untergegangenes Volk denken, an unvorstellbare Schätze sowohl in Form von Gold als auch von Wissen über die Zauberkunst. Dass das alte Blut des Kleinen Volkes in Sagrik floss, machte seine Hässlichkeit faszinierend, seine Uneindeutigkeit geheimnisvoll und entschuldigte sogar ein wenig sein gelegentlich befremdliches Verhalten.

Der kleine Junge kam wieder und hielt ihnen den Vorhang aus Ranken auf. Ob er ein reinblütiger Gokra war? Kanemô konnte es sich vorstellen, so fremdartig war sein Aussehen.

Sagrik führte seinen Esel durch das Dickicht, Kanemô folgte. Dahinter lag ein See im Schimmer von Lichtstrahlen, die weit, weit oben durch das Gestein fielen. Hütten trieben auf dem Wasser, manche durch Klappstege miteinander verbunden. Der Junge brachte Kanemô und Sagrik zu einem Floß, das mit einem Baldachin und Laternen ausgestattet war und beinah auch eine Hütte genannt werden konnte. Sagrik und der Junge tauschten ein paar Worte in der Sprache des Kleinen Volkes, dann nahm der Junge die Esel und führte sie fort, vermutlich um sie zu versorgen. Sagrik stieg auf das Floß und half Kanemô hinauf. Zielsicher stakte er das Gefährt auf eine Hütte am anderen Ende des Sees zu, die unter einem Felsvorsprung so mit Moos und Gestrüpp überwachsen war, dass Kanemô sie für eine Insel gehalten hätte, wären die Fenster nicht von Licht erfüllt gewesen.

Als Sagrik das Floß mit den Ranken am Haus vertäute, sah Kanemô eine Gestalt im Eingang stehen. Erst hielt sie die Gestalt für hochgewachsen, doch sie trug nur einen erstaunlich hohen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Was darunter normalerweise vom Gesicht zu sehen wäre, verdeckte der aufgestellte Kragen eines Mantels.

„Matara Liotan, men arherag“, sagte Sagrik und verneigte sich mehrfach, während er auf die Veranda des Hauses klettere und Kanemô die Hände reichte, um ihr vom Floß zu helfen. Ohne seine Hilfe wäre es leichter gewesen.

Sie traten vor den Eingang der Hütte, und Kanemô fiel auf, dass die Gestalt vor ihnen klein war wie ein Kind. Ihre Augen, groß und rund und finster, schmälerten sich durch etwas, das ein Lächeln sein mochte.

„Vor Euch steht eine große Frau – eine mächtige Frau“, sagte Sagrik. „Und eine liebe Freundin. Ihr Name ist Löwenzahn – Liotan in der Sprache unseres Volkes.“

Kanemô machte einen Knicks.

Liotan strich den Kragen ihres Mantels herab, wie man eine Blüte öffnen würde, und entblößte ihr Gesicht. Wie Kanemô geahnt hatte, lächelte sie. Aber was für ein Lächeln! Ihr Mund war so breit, dass er ihr rundes weißes Gesicht zu spalten schien. Und darin glänzten zwei Reihen spitzer Zähne.

„Königstochter“, flüsterte die Zwergin. „Wie hübsch sich das Blut der Menschen und Elfen in Euch gemischt hat. Es freut mich, Euch kennenzulernen.“

„Woher wisst Ihr –?“ Kanemô warf Sagrik einen Blick zu. Der neigte den Kopf.

„Kommt. Speist und ruht Euch aus“, flüsterte Liotan und ging ihnen voran in die Hütte.

Ein schmaler spiralförmiger Gang mündete in einen Raum, in dessen Mitte ein Herdfeuer brannte. Das Dach war ringsherum offen, sodass der Rauch abziehen konnte. Grünzeug wucherte herein. Das Erstaunlichste an dem Raum waren jedoch die Wände aus polierten Kupferplatten, auf denen sie sich ein Dutzend Mal spiegelten, so als würden nicht nur drei Leute eintreten, sondern eine ganze Gruppe von Doppelgängern.

Liotan schob eine der Wände beiseite. Kanemô hätte erwartet, dahinter den Spiralgang zu erblicken, aus dem sie gekommen waren, doch stattdessen fand sie ein Badezimmer vor, in dem eine Wasserwanne über einem kleinen Feuer dampfte.

„Wascht Euch nach der langen Reise“, sagte Liotan mit ihrer leisen Stimme.

„Ich lasse Euch den Vortritt“, beeilte sich Sagrik zu sagen. „Euch steht das saubere Wasser zu, meine Herrin.“

„Danke“, murmelte Kanemô.

Liotan schob die Wand zu. Und Kanemô war allein … nun, abgesehen von ein paar neugierigen Vögeln, die in den Ranken im Dach zwitscherten.

Kanemô legte ihre schlammbespritzten Kleider ab. Es tat gut, die Stiefel auszuziehen. Als sie in das heiße Badewasser glitt, entfuhr ihr ein Seufzen. Seife, eine Bürste und ein Schwamm lagen auf einem Tischchen bereit. Woher hatte Liotan gewusst, dass sie kommen würden? Hatte Sagrik von Anfang an geplant, sie hierherzubringen? Sie hatte nie den königlichen Brief gesehen, der die Hohepriesterin Madurahan dazu bewogen hatte, sie Sagrik anzuvertrauen. Sie musste darauf vertrauen, dass Madurahan sich nicht von einer Fälschung hatte täuschen lassen … Die Tatsache, dass sie keinerlei Mitspracherecht bei den Entscheidungen über ihr Leben gehabt hatte und dass sie ihren Beschützern vollkommen ausgeliefert war, fuhr ihr wie ein eisiger Luftzug durch die Knochen – trotz des heißen Badewassers. Sie umschlang sich selbst. Atmete gegen das entsetzliche Gefühl der Hilflosigkeit an. Es gelang ihr einigermaßen.

Doch als sie die Seife zur Hand nahm und sich die Haare einschäumte, kam ihr etwas davon in die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen … Sie tauchte unter, um sich nicht schluchzen zu hören.

Als sie aus der Wanne stieg, fühlte sie sich von einer dumpfen Gleichmut wie betäubt. Ein Tuch zum Abtrocknen lag neben den Waschsachen bereit und darunter ein weicher Stoffmantel. Kanemô schlüpfte hinein. Es würde ohnehin alles so geschehen, wie andere es beschlossen hatten. Was nützte es, sich zu sträuben? Doch bevor sie aus dem Bad trat, hielt sie inne, schob die Kupferwand einen winzigen Spalt weit auf und spähte in den Raum.

Liotan saß breitbeinig auf einem niedrigen Sessel am Feuer, Sagrik kniete auf einem Sitzkissen und hatte den Kopf gesenkt. Reglos, wie er war, hätte Kanemô ihn für schlafend halten können, doch er raunte Worte in der Sprache der Gokra. Währenddessen begutachtete Liotan den Inhalt eines Ledersäckchens. Hin und wieder fischte sie einen kleinen Gegenstand heraus, befühlte ihn und hielt ihn gegen den Feuerschein. Es waren weiße, längliche Gegenstände. Klauen oder Zähne oder beides.

Liotan schüttete den Inhalt des Ledersäckchens in ihre Hand und warf sich die Klauen und Zähne in den Mund. Kanemô schauderte, als sie sie kauen hörte. Es klang, als würden Klingen übereinanderschrammen.

Sie gab sich einen Ruck und schob die Wand auf.

„Komm. Setz dich“, flüsterte Liotan.

Kanemô gehorchte.

Sagrik war schon verschwunden, als sie sich nach ihm umdrehte – wie merkwürdig. Er musste lautlos aufgestanden und gegangen sein. Kanemô war mit Liotan allein.

Die Zwergin musterte sie. „Bist du hungrig? Iss!“

Kanemô nahm den Löffel und die Holzschüssel, die auf einem Tischchen neben dem Herdfeuer dampfte. Darin befand sich eine dunkle Suppe mit weißen Teigklößen und Rüben. Kanemô aß. Sie schmeckte bittersüße Gewürze heraus, die sie noch nie gekostet hatte. Doch die Klöße waren köstlich, ebenso das Fleisch, auch wenn sie es keinem Tier zuordnen konnte.

„Woher kennt Ihr Sagrik?“, fragte sie nach ein paar Löffeln des Schweigens.

„Sagrik und ich sind schon lange, lange Freunde“, flüsterte die Zwergin, als sei das eine Antwort. „Mundet Euch der Eintopf? Es ist ein altes Gericht meines Volkes.“

„Es schmeckt köstlich. Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft.“ Sie zögerte, dann fragte sie: „Warum hat Sagrik mich zu Euch gebracht?“

„Haha … Ihr seid direkt und furchtlos. Wie es sich für eine Thronfolgerin gehört.“ Liotans Mund war blutig vom Zerkauen der scharfen Gegenstände, die Sagrik ihr gebracht hatte. „Oder irre ich mich?“ Liotan kniff die Augen zusammen. „Fürchtet Ihr Euch?“

„Habe ich Grund, mich zu fürchten?“

„O ja“, zischte die Zwergin. „Männer ziehen durch das Land auf der Suche nach Euch. Wenn sie Euch finden, werden sie Euch wie hungrige Löwen zwischen sich zerreißen.“

Kanemô wandte den Blick ab und musterte den merkwürdigen Raum. Ihre Spiegelbilder auf den Kupferwänden. Liotan sah sie in der Reflexion an.

„Was erhofft Ihr Euch davon, dass Ihr mich versteckt?“, fragte Kanemô rundheraus.

Die Zwergin lachte lautlos. „Ich habe nicht vor, Euch zu verstecken. Ich biete nur einem alten Freund und seinem Schützling meine Hilfe an. Ich werde oft von meinen Freunden um Hilfe gebeten …“

„Und Ihr könnt mir helfen?“

„Wenn Ihr das wollt … Wenn Ihr wisst, was Ihr wollt.“

Nie war Kanemô gefragt worden, was sie wollte. Sie wusste nur, was sie nicht wollte.

„Ein Leben im Verborgenen gefällt Euch nicht“, erriet Liotan. „Und es ist auch nicht angemessen. Eine Thronfolgerin ist nicht feige. Sie versteckt sich nicht wie ein Kaninchen im Bau. Sie verteidigt ihr Recht auf das, was ihr zusteht. Das ist es, was Ihr wollt … was Euch von Geburt zusteht.“

Kanemô ballte die Fäuste. Sie war die erstgeborene Tochter des Königs, und – sofern es keine Söhne gab – Erbin der Krone von Ivenhall, dem größten Reich der Menschen, das alle Fürstentümer geeint und die Kriege der Vergangenheit beendet hatte. Sie hatte sich nie wirklich in ihr Schicksal als Novizin des Mondtempels gefügt. Ebenso wenig würde sie hinnehmen, von jetzt an auf der Flucht vor aufständischen Bauern zu leben. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, dann war es nicht das Recht auf die Krone, was sie am meisten ersehnte. Mehr als alles andere wollte sie – das ahnte sie, seit sie den Tempel verlassen hatte –, Letanna und Perasia wiedersehen. Egal unter welchen Umständen. Dass das ihr größter Herzenswunsch war, kam ihr wie ein beschämendes Geheimnis vor.

„Ich weiß nicht, wie ich zu meinem Recht kommen soll“, entgegnete Kanemô, um sich von ihrer Einsicht abzulenken. „Es müsste schon jemand die Rebellen besiegen.“

Liotan stand auf, nahm sie bei den Händen und führte sie vor eine der Kupferwände.

„Schaut genau hin“, flüsterte Liotan. Sie strich über Kanemôs langes, gewelltes Haar. Dann öffnete sie Kanemôs Mantel und entblößte ihren Körper. Kanemô fühlte sich vor Schreck wie erstarrt und ihr Gesicht begann zu glühen.

„Schaut“, befahl Liotan. „Das seid Ihr. Das ist Eure Macht. Wenn jemand die Rebellen besiegt, dann Ihr. Aber unter Eurer zarten Haut müsst Ihr hart sein wie Eisen. Und kalt wie Schnee.“

Kanemô widerstand dem Drang, ihren Mantel wieder zuzuziehen. Sie wollte nicht zugeben, wie verunsichert sie von ihrer eigenen Nacktheit war. „Ihr schlagt vor, dass ich mich den Rebellen stelle, anstatt mich zu verstecken. Dass ich den Mörder meines Vaters heirate, um selbst auf den Thron zu gelangen!“

Die Zwergin kniff ihr kosend in die Wange. „Ihr seid weder hart noch kalt. Schon Euer eigener Anblick lässt Euch zittern!“

Kanemô schloss den Mantel und verschränkte die Arme. „Selbst wenn – der Mörder meines Vaters wird erwarten, dass ich mich an ihm rächen will. Ich weiß nicht, wie man Bestien beherrscht, auch wenn in mir das Blut von Ivenhall fließt. Und ich kann ihn nicht einfach … vergiften. Man würde sofort wissen, dass ich es war.“

„Was das angeht, gibt es Mittel und Wege. Viel wichtiger ist, ob Ihr dazu in der Lage seid. Und ich glaube, Ihr wollt das Opfer nicht darbringen.“

„Welches Opfer?“

Liotan schritt zurück zu ihrem Sessel und nahm Platz. Kein Anzeichen von Vergnügen lag mehr in ihrer Miene. „Euer Herz.“

*

*

5.

„Mein Herz?“ Kanemô bemühte sich um einen spöttischen Ton, aber sie wusste nicht, ob es ihr gelang. „Was soll das heißen?“

„Ihr habt Kälte erfahren“, flüsterte Liotan. „Aber ich sehe, Ihr seid nicht kalt. Ein Herz bedeutet Angst. Ein Herz bedeutet Zögern. Und Verletzlichkeit. All dies steht Euch im Weg. Darum ist es ein so hässlicher Weg, der auf den Thron führt. Man tötet sich selbst mit jedem Feind, den man tötet. Vielleicht ist es das Ziel nicht wert.“ Sie zuckte die Schultern und schob ein paar Holzscheite in das Herdfeuer. Die Flammen warfen zitternde Schatten auf die Kupferwände des Raumes, und fast schien es, als würden die Wände sich ineinanderfalten.

Wo blieb eigentlich Sagrik? Kanemô ahnte, dass er absichtlich so lange badete, um ihr und Liotan Zeit zu geben, sich zu unterhalten. Sie trat vor die Zwergin. „Wenn ich mich von den Rebellen finden und mit ihrem Anführer verheiraten lasse … welches Gift würde nicht auf mich zurückführen?“

Ebenso gelassen erwiderte Liotan: „Nur ein Gift, das den Anschein erweckt, als sei der Rebellenführer noch am Leben.“

Kanemô versuchte das zu verstehen. „Eins, das ihn krank macht?“

„Nicht krank – tot. Tot und dabei lebendig wirkend. Wie eine Marionette. Aber das geht nur, wenn Ihr die Fäden richtig haltet, und das zu beherrschen, verlangt ein großes Opfer.“

Etwas an Liotans mitleidigem Blick ließ Kanemô frösteln. Denn das Mitleid schien über einem anderen, verborgenen Gefühl zu tänzeln … Gier.

„Ich bin müde“, sagte Kanemô. „Erlaubt Ihr, dass ich mich schlafen lege?“

Liotan lächelte, und an diesem viel zu schnellen Lächeln erkannte Kanemô, dass die Zwergin ihre wahren Gefühle verbarg. Das plötzliche Beenden des Gesprächs hätte sie eigentlich enttäuschen, wenn nicht gar verärgern müssen, wollte sie Kanemôs Neugier doch so offensichtlich wecken.

„Bitte.“ Die Zwergin wies auf ein Lager aus Daunenkissen und Wolldecken in einer Ecke des Raumes.

Kanemô legte sich hin, das Gesicht zur Wand. Ihr Herz klopfte hart in ihrer Brust. Sie traute Liotan kein bisschen. Doch wenn sie ihr wirklich ein Gift geben konnte, das ihr Macht über den Mörder ihres Vaters gab … Wie eine Marionette.

Kurz darauf hörte sie, wie Sagrik aus dem Bad kam. Er und Liotan tuschelten in der kehligen Sprache ihres Volkes. Kanemô lauschte ihnen, bis sie, ohne es zu merken, einschlief.

Mit einem Schreckenslaut kam Kanemô zu sich. Die Erinnerung an ihren Traum von Letanna, Perasia und den Priesterinnen zerrann augenblicklich. Nur Liotans Lächeln voller spitzer blutiger Zähne flimmerte noch vor ihrem inneren Auge.

Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass Sagrik neben ihr auf dem Boden lag und den Kopf einzog, um so zu tun, als würde er schlafen.

„Ihr seid wach“, bemerkte Kanemô.

Langsam richtete sich Sagrik auf. „Oh, Prinzessin. Ihr könnt nicht schlafen? Kein Wunder. Die neue Umgebung, die Aufregung …“

Kanemô warf einen Blick durch den Raum. Das Herdfeuer war zur Glut heruntergebrannt und Liotan fehlte. Sie rutschte ein wenig von Sagrik weg. „War der Brief meines Vaters eine Fälschung?“

„Was meint Ihr?“, fragte Sagrik.

Sein unterwürfiger Ton versetzte sie in Rage. Er musste sie für dumm halten. Auf dem Bündel seiner abgelegten Kleider sah sie einen Dolch, der am Gürtel befestigt war. Gefühlt sehr langsam zog sie den Dolch heraus, beugte sich über Sagrik und drückte ihm die Klinge an die Kehle.

„Die Priesterinnen haben immer mich die Schafe schlachten lassen“, sagte sie ruhig. „Handelt Ihr auf königlichen Befehl oder habt Ihr mich entführt?“

Ihm entfuhr ein Röcheln, als das Metall ihn ritzte. „Der Brief ist echt. Euer Vater hat mich beauftragt, Euch zu beschützen.“

„Aber mich zu Eurer Freundin zu bringen, die mir ein Gift für den Rebellenführer andrehen will, das war allein Eure Idee. Nicht wahr?“

„Ja“, krächzte er.

„Warum?“

„Meine Prinzessin … bitte lasst mich erklären.“

Sie verringerte den Druck der Klinge, nahm sie aber nicht weg. Eine hellrote Schramme blieb an seinem fetten Kinn zurück.

„Ich sage Euch alles. Die Wahrheit.“ Er unterdrückte ein Seufzen, als sie die Klinge immer noch nicht senkte. „Ich will Euch auf dem Thron sehen, Prinzessin Kanemô. Euch, nicht irgendeinen Bauern ohne Zauberkraft. Das Königshaus von Ivenhall muss fortbestehen. Ich werde alles dafür tun. Ich würde mein Leben dafür geben.“

„Warum?“

„Bevor Ivendir, der erste König von Ivenhall, einen Drachen erschuf, befand sich die Welt im Chaos. Die Fürsten der Menschen kämpften alle gegeneinander. Es muss einen Herrscher geben, der mächtiger ist als alle anderen, damit Frieden herrscht. Wenn Euer Vater ein Drachenmacher gewesen wäre wie seine Vorfahren, hätte es nie eine Rebellion gegeben, und uns wäre ein blutiger Krieg erspart geblieben. Nur Ihr könnt diesen Frieden wiederherstellen … wenn in Euch eine Drachenmacherin steckt.“

Sie musterte ihn und versuchte festzustellen, ob er wirklich jemand war, der sein Leben geben würde, damit andere Frieden bekamen.

„Und wir sind für Ivenhall, weil Ivenhall im Gegenzug unser Volk beschützt“, flüsterte Liotan.

Kanemô fuhr zusammen. Die Zwergin schien direkt aus einer der Kupferwände getreten zu sein, ihren merkwürdigen hohen Hut ins Gesicht gezogen. Zu sehen, wie Sagrik unter der Klinge lag, schien sie zu amüsieren.

„Eure Vorväter, Prinzessin, waren die Verbündeten meines Volkes. Dank der Macht Eurer Vorväter sind die Hohen Elfen in Madgar Yhs geblieben, anstatt uns zu jagen und auszurotten. Das Elfenvolk und unser Volk lieben sich nicht. Darum missfällt es uns umso mehr, dass die Hohen Elfen Ivenhall zerstören und die Zauberkraft der Menschen auslöschen wollen.“

„Das ist der Grund, warum ich den Rebellenkönig heiraten und vergiften soll, sodass er meine Marionette wird – und ich die Eure“, fasste Kanemô zusammen.

Liotan betrachtete die Klinge an Sagriks Hals. „Ich bin froh, äußerst froh über Euren Scharfsinn, Prinzessin. Denn viel besser als eine Marionette ist eine Verbündete – eine Freundin. Lasst uns einander helfen, wie unsere Völker es seit Jahrhunderten getan haben.“

„Ich bin eine Halbelfe“, erinnerte Kanemô sie.

„Eure elfische Mutter war eine Spionin und hat Euch im Stich gelassen, um nach Madgar Yhs zurückzukehren. Würden die Elfen Euch als eine der Ihren ansehen, hätten sie Euch nicht in einem Mondtempel verrotten lassen.“

Kanemô biss die Zähne zusammen, um sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen. Es konnte eine Lüge sein – ein Test. Ihre Mutter konnte ebenso gut von König Sagamenon eingesperrt oder getötet worden sein.

„Aber vielleicht hegen wir unsere Hoffnungen umsonst“, seufzte Liotan. „In Euch mag das königliche Blut fließen, doch was bringt das, wenn Ihr zu einer furchtsamen Novizin erzogen wurdet, die von der Welt nichts weiß … und sich nur danach sehnt, in ihren Tempel zurückzukehren.“

Kanemô stieg das Blut ins Gesicht. Sie drückte die Klinge wieder fester an Sagriks Kehle. „Ihr sagt, dass ich herzlos sein muss, um mich zu rächen. Glaubt Ihr mir jetzt oder muss ich es erst beweisen?“

Liotan begann lautlos zu lachen. „Ich will einen Beweis.“

Die Worte, obzwar nur geraunt, klangen in Kanemôs Ohren. Verlangte die Zwergin allen Ernstes, dass sie Sagrik umbrachte?

Liotan wartete; dann streckte sie einen Fuß aus und schob den Dolch beiseite. „Lass uns allein“, befahl sie.

Erst glaubte Kanemô, sie sei gemeint, doch dann kroch Sagrik aus ihrer Mitte und verließ den Raum.

„Ich werde dir Macht geben“, flüsterte die Zwergin. Ihr Fuß drückte den Dolch mit solcher Kraft zu Boden, dass Kanemô loslassen musste. Liotan nahm ihr Gesicht in die Hände. Kanemô spürte ihren Atem auf der Haut. Er roch süß und bitter wie Pflanzensaft. „Du wirst keine Angst haben. Du wirst keine Feigheit kennen. Du wirst nicht den Tempel vermissen und schwach werden vor Sehnsucht nach den Menschen, die dir fehlen. Du wirst dein Herz bei mir lassen, wenn du den Thron besteigst, und ich werde es aufbewahren wie eine Freundin. Einverstanden?“

Kanemô schämte sich, so durchschaut worden zu sein. Sie sah in die Augen der Zwergin, die schwarz waren wie Sumpföl und kein Licht reflektierten. Und für einen Moment flackerte das Bild von Letanna und Perasia vor ihr auf, wie sie sie umarmten. Nicht im Tempel in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, im Palast, wenn sie Königin geworden war.

„Einverstanden“, sagte Kanemô kühn. „Aber erst will ich das Gift für den Königsmörder.“

Liotan drückte Kanemôs Kopf zurück. Dann beugte sie sich so nah zu ihr herab, dass ihre Lippen sich beinah berührten. Mit ihren Fingern spreizte sie Kanemôs Mund auf und dann küsste sie sie.

Kanemô spürte die fremde Zunge wie ein Lebewesen in sich, und ein Schluck kalter – eiskalter – Flüssigkeit rann ihr die Kehle hinab, so süß und bitter, dass Kanemô würgen musste. Sie wollte Liotan wegdrücken, doch die Zwergin presste ihren Mund weiter auf ihren und ihre spitzen Zähne ritzten ihr die Lippen auf. Eine Weile rangen sie atemlos miteinander, wogten vor und zurück wie Liebende. Das Gefühl, sich übergeben zu müssen, versickerte in Kanemô zu einem dumpfen, betäubenden Grauen. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Und da endlich löste Liotan den Mund von ihrem und begann ihr Dinge ins Ohr zu flüstern, entsetzliche Dinge, derer Kanemô nun fähig sei, und Kanemô spürte mit jeder Faser, dass es stimmte.

Liotan ließ sie los – stieß sie geradezu von sich – und Kanemô sank auf das Lager zurück. Ekel erfüllte ihren Körper, kribbelte wie Schaben unter ihrer Haut, kroch wie Würmer durch ihre Eingeweide, räkelte sich wie ein Aal in den Hohlräumen ihrer Knochen. Sie war erstarrt vor Abscheu, während in ihrem Körper tausendfaches Leben erwachte. Sie versuchte nicht einmal zu verhindern, dass Liotan sich auf sie setzte und ihren Mantel öffnete. Die Hände der Zwergin glitten ihren Hals hinab, der ein Fluss aus Unrat geworden zu sein schien, und verweilten auf ihrer Brust, einem Friedhofshügel, berstend vor Aas. Und in die weiche, gärende Masse, die ihr Körper geworden war, drangen die Finger der Zwergin ein, umschlossen etwas und zogen es aus dem Rippenkäfig heraus.

Der Raum stand in Flammen. Die Kupferwände flackerten vor Hitze. Sie spürte die Finger der Zwergin an einem Ort in sich, den sie für unberührbar gehalten hatte. Sie erwartete Schmerz … aber er kam nicht. Im Gegenteil. Die Finger zogen sich aus ihr zurück und hinterließen eine Leere, die angenehm war.

Kanemô schnappte nach Luft. Leer. Sie war vollkommen leer. Vollkommen still.

Der Raum lag im Halbdunkel. Schwach schimmerte die Glut des Herdfeuers auf den Kupferwänden. Kein Geräusch war zu vernehmen; die Stille war dick und leicht wie eine Handvoll roher Wolle.

Liotan war bereits von ihr heruntergestiegen. Kanemô sah gerade noch, wie sie das Etwas, das aus ihrer Brust stammte, unter ihren Mantel schob – behutsam, als wäre es ein Vogeljunges. Es schien aber eher ein Stein zu sein. Doch schon war es unter dem Mantel verschwunden.

Kanemô blickte an sich herab. Auf ihrer Brust, auf der Höhe ihres Herzens, war eine sternförmige Narbe. Sie dachte daran, dass sie entsetzt sein müsste. Sie dachte daran, dass das, was soeben geschehen war, Grund zur Panik wäre.

Sie empfand – nichts.

Die Stille war weich und dicht, und erst als sie in den Ranken, die durch die Fenster weit oben hereinwucherten, Vögel zwitschern hörte, begriff sie, dass die Stille nicht um sie herum herrschte.

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

24 thoughts on “Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

  1. Ich finde es irgendwie immer interessant, wenn zwei verschiedene Völker aufeinander treffen, da vielleicht unterschiedliche Gepflogenheiten und Eigenschaften haben. Ich finde auch hier wieder spannend, welche Erwartungen an Kanemô wegen ihrer Herkunft gestellt werden, dass ihr aber sofort in den Sinn kommt, dass es – zumindest jetzt und für sie – wichtigere Dinge gibt. Welche (symbolische) Rolle ihr Herz hier einnimmt, ist irgendwie schön, aber auch etwas tragisch – die ihm zugeschriebenen Eigenschaften werden hier ja als Schwäche bezeichnet. Ein tolles Thema, dass das Herz hier als zu bringendes Opfer genannt wird!
    Ich finde, mitten in dem Lesefluss, den bisher alle deine Bücher bei mir hervorgerufen haben, vergisst man Raum und Zeit. Das ist so schön, wie leicht man sich in einen Worten und Beschreibungen verlieren kann, du hast da echt eine ganz besondere Gabe! :)

    1. Danke für deine lieben Worte. Und sich zu verlieren und trotzdem irgendwie bei sich anzukommen, ist genau das Gefühl, das ich beim Lesen selbst immer suche. Wenn meine Geschichten das bei anderen auslösen können, habe ich meinen Traum erfüllt!

  2. Moin Moin,
    ich gestehe, du hast mich da jetzt echt kalt erwischt. Das Liotan zu solchen drastischen Mittelgreift (ich nenn das jetzt einfach mal so) hätte ich tatsächlich nicht erwartet. (vor allem wenn ich in den Kommentaren lese, das es noch gekürzt ist… bekomme ich ja fast Angst, was da noch gestanden haben könnte)

    Ich denke das ist hier dann ab diesen Punkt auch eine drastische Änderung, für Kanemô, vielleicht nicht unbedingt vom Denken und Handeln her, sondern einfach eher als würde man die Dinge dann anders abwegen, weil man sie anders betrachtet. Rein vom Kopf her weiß man immer noch was ‘Gut’ und was ‘Böse’ ist, einfach grundlegende Dinge (das man beim Abbiegen Blinken sollte zum Beispiel, und unrecht ist jemanden einfach über den Haufen zu fahren) aber man betrachtet die Geschehnisse vielleicht jetzt mit einer anderen Distanz? Jedenfalls stelle ich mir das bei ihr so vor. Sie wird vielleicht immer noch an ihre Freundeninnen denken, aber das Herz wird dabei nicht mehr so schwer wiegen. Ich finde das ist schon ein gewalltiges Opfer. Und so wie sie überrumpelt wurde, konnte ihr nicht mal klar werden, was für Auswirkungen das am Ende haben wird. Ich finde das ist ein verdammt interessanter Ansatz. Wonach strebt man, wenn man keinen Herzenswunsch hat? Handelt man dann eher so, wie es die Meisten erwarten würden? Oder ist einem das am Ende egal? Und lässt sich dann Ziele aufzwingen?

    Aus Liotan wird man jedenfalls nicht so richtig schlau, aber ich denke das ist durch aus Absicht, um so Ahnungslose Leser wie mich weiter neugierig zu machen ;-) Vom Charakter her finde ich sie jedenfalls Interessant, man fragt sich halt was dahinter steckt, was ihre Ziele sind. Ich denke nämlich schon, das sie durch aus jemand ist, die zu ihrem Wort steht, aber eben nicht alles Preis gibt, oder aber vielleicht auch nicht alles Preis geben kann?

    Und die größte Frage, die ich mich gerade Stelle ist ja… eine Drachenmacherin, was macht eine Macherin aus? Welche Vorraustzungen muss man haben, um Drachen machen zu können? (und tut man das wirklich? Macht man sie? Oder holt man diese von wo anders her? und vor allem zu welchem Preis? ) Ich denke halt, das es wie mit allem ist – ein geben und nehmen.

    Ich bin immer noch wahnsinnig gespannt wohin diese Reise gehen wird und was uns dann am Ende erwartet :-)

    Grüßle Taroru

    1. Hallo Taroru!
      Entschuldige, dass ich erst jetzt antworte. Aber es freut mich sehr, dass die Geschichte dich bis jetzt bei der Stange halten konnte! Und ich gebe dir völlig Recht, Liotan ist ziemlich ambivalent. Wer sie ist und was sie will, wird aber im Lauf der Geschichte noch aufgeklärt … Das war einer meiner Lieblingsaspekte der Geschichte. Mehr verrate ich nicht! ^^
      Gute Frage, welche Auswirkung der Verlust des Herzens/Gefühls auf die Moralität hat. Ich glaube auch, dass viele moralische Entscheidungen mit der Vernunft getroffen werden und nicht aus dem Gefühl heraus, aber dann wieder denke ich, dass wir überhaupt nur einen Grund sehen, die Vernunft anzuwerfen, wenn uns etwas emotional stimuliert. Also auf lange Sicht glaube ich, wird ein gefühlskalter Mensch handlungsunfähig. Bei hochgradig depressiven Leuten kann man das ein bisschen beobachten. Aber in dieser Geschichte gibt es noch einen twist, also wird Kanemô nicht unbedingt hochgradig depressiv. Hehehe, ich sollte nicht noch mehr sagen! Normalerweise spoilere ich liebend gern den ganzen Tag, aber bei meinen eigenen Geschichten macht es sogar noch mehr Spaß, NICHT zu spoilern.

      :)

      1. Moin Moin Jenny,
        ach, ich bin nicht böse, wenn nicht so fort eine Antwort kommt ;-) schließlich habe ich ja auch erst spät gelesen :-D
        Aber ich freue mich, zu lesen was für Gedanken hinter deinen Geschichten stecken :-D
        Richtig moralische Entscheidungen, denke ich auch, werden durch aus auch aus einem Gefühl herraus getroffen. Wie entscheidet man sonst, was recht und was unrecht ist? Schwieriges Thema an sich schon.
        Und das mit dem bei eigenen Geschichten nicht Spoilern kommt mir bekannt vor, es macht einfach spaß zu lesen, was andere denken, über das wieso und warum und so weiter :-p
        Ich danke dir jedenfalls, für das Teilhaben, deiner Gedanken :-D

        Grüßle
        Taroru

  3. Liebe Jenny,
    Ich freue mich sooo über das neue Buch und kann kaum erwarten, wie es weitergeht. Ich habe eine ca. einjährige Leseflaute hinter mir und ich glaube, das hier ist die Geschichte, die mir die Liebe zum Lesen (und zu Fantasy) wiederbringt. Lustig eigentlich, da es auch dein Roman Nijura war, der mich damals dazu gebracht hat, Bücher heiß und innig zu lieben (und schließlich dafür gesorgt hat, in der Verlagsbranche zu arbeiten). Ich kann mich noch genau daran erinnern, als Kind auf deiner alten Website mit den vielen Illustrationen rumzuscrollen und davon zu träumen, bei Random House zu arbeiten (das hat zwischenzeitlich übrigens geklappt ;)).

    Zum Kapitel: Wow, man merkt richtig, wie die Geschichte Fahrt aufnimmt! Auch wenn ich zwischendurch vom “Layout” der Welt ein bisschen verwirrt war (findet das ganze jetzt im Inneren des Berges statt oder habe ich überlesen, wie sie da wieder rauskommen?), liebe ich einfach, wie atmosphärisch alles beschrieben wird. Man merkt, da liegt noch etwas vor uns! Und Hut ab, ich glaube, es nicht einfach, einen emotionslosen Protagonisten zu schreiben und dem Publikum dennoch zu ermöglichen, irgendwie mit ihm zu sympathisieren? Aber wenn es jemand schafft, dann du!
    Ich freue mich auf mehr.
    Viele Grüße nach Berlin aus dem regnerischen Seoul

    1. Liebe Luisa,
      danke für deine liebe Nachricht und ich fühle mich sehr geehrt, dass meine Geschichten diesen Einfluss auf dich haben konnten. Und wie cool, dass du ein Büchermensch geworden bist :-D Wo bei Random House bist du denn (und wie kommt es, dass du in Seoul sitzt? Ich beneide dich ums Essen …)
      Genau, das Ganze spielt sich innerhalb des Berges ab. Aber es ist ein löcheriges Gestein, also irgendwie eher wie eine Burg aus Totenköpfen. Oder so. ^^
      Ja, genau das war die Herausforderung, die mich gereizt hat: eine emotionslose Heldin! Also ein bisschen schummeln werde ich noch, weil eine zweite Hauptfigur dazukommt … Aber im Grunde habe ich mich gefragt, wie das funktionieren könnte. Es war jedenfalls ein Experiment!

  4. Entschuldige bitte, dass ich erst jetzt reagiere, aber ich hatte bis eben leider noch etwas zu erledigen. Was bizarr ist, da ich doch ab morgen auch meine wohlverdienten Sommerferien genießen kann. Aber jetzt mal zum Eigentlichen:

    Jetzt wird es aber wirklich spannend! Und wieder ziehst du mich in deine Welt, lässt mich von ihr einnehmen, mich ganze verhüllen – nur um mich dann wieder unsanft in die Wirklichkeit zurückzuholen, ohne Vorwarnung, ohne Sicherheitsnetz. Mit anderen Worten: Ich will wissen, wie es weitergeht! Letzte Woche hast du mich mit der Figur des Sagrik absolut abgeholt. Jetzt verblasst seine Gestalt aber wieder und präsentiert uns nun Liotan. Eine interessante Figur, die sehr vielschichtig zu sein scheint – oder aber auch nur gekonnt so tut. Dass der Aufenthalt bei ihr mehr zu bedeuten hat, zeigt schon ihre Einleitung: „Vor euch steht eine große Frau, eine mächtige Frau.“ Im ersten Moment wirkt diese Wortwahl noch etwas paradox, aaaber spätestens am Ende des 5. Kapitels weiß man, dass sie nicht nur mächtig ist, sondern auch eine gekonnte Verführerin. Sie spielt mit Kanemô. Sie überzeugt sie. Mir ist bis zum Ende nicht hundertprozentig klar, warum sich Kanemô auf diesen Handel einlässt. Ich kann nur Vermutungen darüber abgeben – fände es aber spannend zu wissen, was du, liebe Jenny, konkret intendiert hast.

    Zum Ersten ist Liotan die Erste, die Kanemô danach fragt, was SIE will. Darin allerdings findet sich schon meine erste Verunsicherung: Sie wünscht sich, Letanna und Perasia wiederzusehen. Nicht die Krone. Nicht den Thron. Nicht die Macht und den Zauber, die ihr zustehen. Noch nicht einmal ihre Sicherheit. Nein, fast schon etwas Banales. Und Kanemô weiß darum. Dieses Gefühle muss sie ja gerade am Ende aufgeben, indem sie ihr Herz eintauscht. Warum tut sie es also? Immerhin vertraut sie Liotan überhaupt nicht. Sie wird sogar als versteckt „gierig“ beschrieben. Welche Gier verführt sie? Die Sicherheit vor den Hohen Elfen oder steckt noch mehr dahinter? Hat sie noch mehr Vorteile, wenn Kanemô den Thron für sich beanspruchen kann? Oder braucht sie nur das Herz? (Für war auch immer…) Oder ist es gar ein Wunsch ihrerseits, dass Kanemô „hart wie Stein und kalt wie Schnee“ wird? (Schön ist auf jeden Fall, dass der Romantitel auf diese Weise bereits erklärt werden kann!) Logisch ist es schon einmal, dass Kanemô nur so überleben kann.
    Zum Anderen ist es rein theoretisch schon konsequent, dass Kanemô dem Weg Liotans folgt. Immerhin zeigt sich eine deutliche Resignation Kanemôs in Bezug darauf, dass sie kein Mitspracherecht bei ihrem Schicksal hat: „Es würde ohnehin alles so geschehen, wie andere es beschlossen hatten.“ Dieser Einsicht folgend ist es nur logisch, dass Kanemô ihrem eigenen Herz nicht folgt. Ja, sie ist empfindet die Leere in ihrer Brust sogar als „angenehm“. Sie kann sich also nun voll und ganz in das Schicksal fügen, das andere für sie auserkoren haben. Liotan spricht davon, dass sie den Rebellenführer zur ihrer Marionette machen soll, dabei ist sie doch nun eine Marionette Liotans.
    Einzig Sagriks Beweggründe nehme ich als aufrichtig wahr (vielleicht ist mir seine Figur aber auch einfach nur sympathischer als Liotans). Kanemô kann den Frieden wiederherstellen, wenn sie eine Drachenmacherin ist: „Es muss einen Herrscher geben, der mächtiger ist als alle anderen, damit Frieden herrscht.“ Ich persönlich stimme diesem Satz im Übrigen aus einem simplen Grund jedoch nicht zu: Ich glaube nicht, dass mit einem mächtigen Herrscher wahrer Frieden herrschen kann. Vielmehr werden doch alle anderen einfach unterdrückt. Ja, die Bedürfnisse anderer müssen doch von einem solchen Herrscher noch nicht einmal wahrgenommen oder befriedigt werden. Ein allmächtiger Herrscher kann ebenso machiavellistisch regieren und mit Trug und Hinterlist versuchen, seine eigene Macht zu manifestieren. (Ich habe letztens erst einen anderen Roman gelesen, in dem eine Königsfamilie ihr Herrscherrecht durch den Besitz eines magischen Amuletts legitimiert. Am Ende kommt allerdings raus, dass dieses überhaupt keine Macht hat, wodurch eine ganze Dynastie zugrunde geht).

    Du siehst, so wirklich durchsichtig ist Liotans Figur nicht, was ich gerade so spannend finde. Und es bleiben Fragen, deren Antworten ich begehre. Ja, geradezu verlange, wenn man das so sagen kann.
    Sprachlich sehr schön fand ich ihre Einführung: „Liotan strich den Kragen ihres Mantels herab, wie man eine Blüte öffnen würde.“ Grandios. Gänsehautverursachend.

    1. Lieber Kevin!
      Danke für deine ausführliche Rückmeldung, ich freue mich jedes Mal, von dir zu lesen. Wo fange ich an? Ah, vielleicht beim Ende, Liotan, die unter ihrem Kragen auftaucht wie in einer Blüte: Ich hatte einen Grund, bei Liotan (und Sagrik) immer wieder auf das Geschlechtliche hinzuweisen, und Liotan sollte auf eine extrem beunruhigende, aber weibliche Weise übergriffig sein. Blüten sind ja der weibliche Teil der Pflanzensexualität (und haben trotzdem im Inneren etwas Phallusartiges), darum. Aber auch, weil mir das Bild natürlich gefiel. :)
      Was Kanemôs Beweggründe angeht: Ich hatte vor dem Schreiben überlegt, ob Kanemô eine eiskalte, zielorientierte Rächerin sein sollte, die den Thron zurückerobert, mich aber dann dagegen entschieden. Ich dachte, es ist nicht nur glaubwürdiger, sondern psychologisch auch interessanter, wenn sie – aufgrund ihrer Vorgeschichte und ihrer Jugend – unsicher ist und eigentlich auch sehr menschlich vor allem an die beiden Freundinnen denkt, die ihr Leben lebenswert machen. Ich glaube, dass intime, liebevolle Beziehungen einem im Normalfall immer wichtiger sind als großartige Ziele, Ruhm und Ehre. Ja, erst die Abwesenheit von intimen, liebevollen Beziehungen scheint die Voraussetzung zu sein, dass man sich in jungen Jahren auf extrem hochgegriffene Ziele fixiert.
      Aber Kanemô würde sich schämen, zuzugeben, dass sie eigentlich nur ganz “banale” Wünsche hat, wie du schon sagst. Immerhin ist sie ja die Königstochter und man erwartet von ihr, dass sie die große Rächerin wird. Sie traut sich also nicht, sich einzugestehen und anderen klarzumachen, was sie wirklich will. Sie lässt sich in eine Rolle drängen und glaubt dann sogar selbst daran (weil sie ihr Herz aufgibt). So habe ich das Gefühl, dass Kanemô echter ist. Oder wenigstens mehr wie ich, was beim Schreiben vermutlich immer dasselbe ist.
      Der Titel wurde übrigens erst später gewählt – basierend auf dieser Passage. Mein Arbeitstitel war “Der Klang von Schnee auf Eisen”, aber der Verlag wollte es anders …
      Zu deinen Gedanken über einen Herrscher: Ich glaube, Platon kommt zu dem Schluss, dass ein wohlwollender Herrscher die beste Regierungsform wäre. Zumindest wäre es die einfachste Form! Zu dem Thema habe ich eigentlich auch seit Ewigkeiten eine Idee im Kopf, die ich richtig gern mag. Ich muss sie nur irgendwann aufschreiben. Hach, Zeit müsste man haben!
      Wie heißt der Roman mit dem magischen Amulett? Klingt ziemlich spannend!

      1. Liebe Jenny,
        die Blumenmetapher ist da wirklich eine gute Idee und sie steht geradezu konträr zur Figur Liotan. Dennoch finde ich, dass dieses Übergriffige hier sehr gut passt. Ich sehe sie quasi als Karnivore vor mir. Und finde das Bild sehr passend (obwohl der Umstand, dass sie das Herz nimmt, dann um einiges düsterer wirkt).

        Ich bin sehr froh, dass du dich gegen deinen ersten Entwurf für Kanemô entschieden hast. Dadurch wirkt sie inhärent nicht nur plausibler, sondern sie ist für uns Leser auch einfach sympathischer und erhält ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Ich stimme dir nämlich absolut zu, dass Zwischenmenschliche Beziehungen mehr Bedeutung haben als höhere Ziele. Zumindest bei psychisch gesunden Menschen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und Kanemô hat durch ihre Kindheit und Jugend einfach schon sehr viel mitgemacht und sich leider zu oft hilflos dem Willen anderer aufgesetzt gefühlt. Das prägt…

        Ich fand den Titel zu Anfang etwas sperrig. Muss aber sagen, dass ich ihn nun absolut passend finde. Wobei mir dein Arbeitstitel fast schon besser gefällt, weil er gerade so äquivok ist. Das mag ich :)

        Du hast natürlich recht. Aber in Platons Polis stehen ja die Philosophen als Herrscher an der Macht (Philosophenkönige) – da ist es natürlich naheliegend, dass Platon dann von wohlwollenden Herrschern spricht. In seinem Gleichnis vom wahren Steuermann versucht er dies auf den ersten Blick sehr eindrucksvoll zu begründen.

        1. Ich frage mich, ob ein Philosophenkönig noch ein Philosoph sein könnte, wenn er ständig mit Realpolitik konfrontiert wäre. Irgendwie ist Politik doch ein Zweck-heiligt-die-Mittel-Geschäft und steht dem Streben nach Wahrheit eher im Weg.
          Noch zu Kanemô: Sie als Hauptfigur und der Roman allgemein basieren lose auf dem 4. Roman, den ich je geschrieben habe, mit 15. Da ging es um eine Prinzessin, die erfährt, dass ihr vermeintlicher Vater in Wahrheit der Usurpator ist, der ihre Eltern tötete, und sie vergiftet ihn, reißt die Macht an sich und wird immer “böser”. Die Hauptfigur damals war eine klassische larger-than-life Heldin mit allen Charakterstärken außer Herzlichkeit, und sie musste dann lernen, Schwäche zu zeigen und zu lieben. Mit 15 war sie die absolute Hineinträum-Figur für mich. Inzwischen finde ich Figuren wie Kanemô spannender, die eigentlich “ganz normal” sind, durch den Druck, etwas Besonderes darstellen zu müssen, aber außergewöhnlich werden, und nicht nur im positiven Sinne.

          1. Das ist eine spannende Frage: Ist ein Philosophenkönig überhaupt noch ein Philosoph. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Platon diese affirmieren würde (alles andere wäre auch wider seinen eigenen Anspruch). Die Frage ist für mich, wie sich die Außenpolitik gestaltet. Wenn alle Nationen durch einen Philosophenkönig repräsentiert werden, ist die Frage, wie vorteilhaft dies wirklich ist. Einerseits besinnen sich Philosophen vielleicht eher auf das Wesentliche. Sie diskutieren sicherlich sehr viel mehr (Habermas hätte also seine wahre Freude mit ihnen).
            Andererseits ist ein Philosoph nichts zwangsläufig auch dafür gemacht, sich um das Wohl seines Volkes zu kümmern und die Fäden in der Hand zu halten. Und es bleibt halt immer auch die Gefahr, von der Macht korrumpiert zu werden.
            Wäre überhaupt jeder Philosoph in der Lage der König zu werden? Oder gibt es Philosophen, die besser sind als andere Philosophen? Puh. Jetzt driften wir aber schon ein wenig ab…

  5. Toll und spannend geschrieben! Ich bin sehr gespannt darauf, wie es für Kanemô sein wird, ohne Herz und allem, was damit einher geht. Beinahe deutet sich ja schon eine Art Erleichterung an, Gefühle nicht mehr fühlen zu müssen.

    1. Ja, je nach Situation kann es erstrebenswert sein, nichts mehr zu fühlen, oder? So werden Leute ja auch “gefühlskalt” im echten Leben. Wobei totale Gefühllosigkeit in meinen Ohren nach einer schlimmeren Depression klingt als Traurigkeit. Mal sehen, wie es Kanemô ergehen wird…

  6. Teil 3:
    Noch ein kleines Detail: Das Versprechen, dass das Herz aufgebahrt werden wird, kaufe ich der Zwergin ab. Bei aller Hinterlist scheint sie dennoch jemand zu sein, der zu seinem Wort steht. So wie es ihr auch schon beim Ritual wichtig war, das grundsätzliche Einverständnis zu haben (auch wenn sie Kameô ein bisschen überrumpelt hat).
    Aber sie wird wohl auch davon ausgehen, dass letztere irgendwann gar kein Interesse mehr daran haben wird, es zurück zu wollen.

  7. Test, ob sich dieser Kommentar jetzt abschicken lässt, denn irgend etwas scheint meinen eigentlichen Kommentar zu blockieren, und ich kann ihn nicht abschicken.

    1. Ok, hier mal in Häppchen. Teil 1:

      Puh, diese beiden Kapitel, und besonders das letzte sind schon sehr heftig. Sagrik fand ich bisher ja noch recht sympathisch, aber Liotan hat trotz ihrer oberflächlichen Freundlichkeit etwas richtig abstoßendes an sich.

      Das Ritual am Ende mit der Herz-Entnahme kam mir irgendwie wie eine Vergewultigang (*) vor. Auch wenn Kanemô formal gesehen schon eine Art der “Einwilligung” entrungen wurde. Aber das ging alles dann doch sehr schnell, und sie wurde ziemlich überrumpelt.

      Auf die nächsten Kapitel mit einer Kanemô ohne Gefühle bin ich wirklich sehr gespannt. Wie verhält sich ein Mensch ohne Emotionen? Wie schon in meinem Kommentar zum ersten Kapitel erwähnt: Vermutlich unmenschlich, aber nicht notgedrungen schlecht in jeder Hinsicht. Und auch im Umkehrschluss führt ja ein Herz nicht immer zu guten und richtigen Handlungen, wie wir bei Die Töchter von Ilian erfahren konnten. Irgendwie sehe ich Kanemô als genaues Gegenstück zu Walgreta, wobei ich befürchte, dass beide auf einen ganz schlimmen Weg gelangen. Die eine, weil sie keine Emotionen mehr hat, die andere, weil sie von ihren Emotionen (Zweifel, Misstrauen, Eifersucht, Stolz…) verschlungen wurde…

      (*) Ich habe dieses Wort jetzt mal absichtlich falsch geschrieben, da sich mein Kommentar nicht absenden ließ, und ich mich gerade Frage, ob es möglicherweise an diesem Wort liegen könnte.

      1. Guten Morgen, Luc!
        Hm, ich weiß auch nicht, warum du Schwierigkeiten hattest, deinen Kommentar zu posten. Eigentlich werden immer nur Links geblockt, aber einzelne Worte sollten nicht gefiltert werden. Trotzdem eine elegante Falschschreibung!
        Ich habe die Szene zwischen Liotan und Kanemô in der Überarbeitung stark gekürzt. Beim ersten Niederschreiben habe ich viel zu viele (drastische) Details gesammelt, was für mich gut war, aber nicht unbedingt den Lesern zugemutet werden muss. Ich habe tatsächlich auch an eine Vergewaltigung (Test) denken müssen, aber da Liotan eine Frau ist, genau anders herum als bei einem Mann: Anstatt etwas in Kanemô zu hinterlassen, nimmt sie etwas heraus. Dass das Nehmen und Geben, wie alle großen Gegensätze, zwischen denen sich das Leben entfaltet, nicht jeweils böse und gut sind, sondern in sich selbst immer wieder gebrochen, begleitet mich als Thema durch alle Geschichten, glaube ich. Und natürlich ist es immer verführerisch, über Geschlechtlichkeit, vor allem als gegensätzliche Urkräfte, zu schreiben. Denn egal, was man über eine Seite sagt, man muss es sofort wieder relativieren und anders sehen, und dieses endlose der Wahrheit Hinterherstolpern ist doch das Beste!

        1. Sehr interessante Gedanken über die Dualität von Geben und Nehmen, Männlichkeit und Weiblichkeit.

          Das Original der Szene muss sehr heftig gewesen sein, wenn die zurückbehaltene Version eine Abschwächung ist. Ich denke, dass die jetzige Form tatsächlich ausreicht ;-)

          1. Ja, total! Ich wusste auch, dass ich vieles wieder rausnehmen würde, ich wollte im ersten Schritt nur alles sammeln.

    2. Teil 2:
      Mir hallt der Satz “Ich will einen Beweis.” noch nach. Ich habe da eine ganz schlimme Befürchtung im Magen, und diese beinhaltet Letanna und Perasia. Wie könnte man sein altes Leben deutlicher hinter sich lassen als wenn man seinen einzigen Freundinnen etwas antun muss.

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