29. Oktober 2021

Das Zeitalter der Drachen

Kapitel 10 & 11

Guten Abend, liebe Vorab-Leser! Der Roman ist nun erschienen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht noch ein bisschen tiefer in die Geschichte hineinlesen können. Weiter geht es mit Aylens Geschichte in der Vergangenheit und dem weiteren Weg von ihr und Nireka in der Gegenwart. Wie immer werden fünf signierte Bücher unter allen verlost, die einen Kommentar hinterlassen. Ich drücke euch die Daumen und bedanke mich für euer Mitlesen und eure Rückmeldungen!

*

*

*

Kapitel 10

Als Kind hatte Aylen ihre Mutter gefragt, was Zeit war. Doch die stets beschäftigte Frau hatte ihr keine befriedigende Antwort geben können, ebenso wenig wie alle anderen Erwachsenen, die sie fragte. Wie konnte es sein, dass nichts blieb und alles verging? Woher wusste man überhaupt, dass etwas gewesen war und nicht bloß ein Traum? Wie kam es, dass ein Tag, den Aylen im Wald verbrachte, so rasch vergehen konnte und ein Morgen bei der Feldarbeit länger währte als eine Woche? Und wer wusste schon, wie viel Zeit wirklich verstrich, während man schlief …

An diesem Morgen weckte Aylen frischer Tau, der ihr kühl in den Kragen rollte. Sie verzog das Gesicht, dann streckte sie sich und stützte sich rücklings auf die Unterarme. Nebel hing über den Wiesen, doch ein leuchtend blauer Himmel verdrängte die Nacht, und die ersten Sonnenstrahlen fächerten sich im Dunst auf. Aylen rieb sich über die Haare, die wieder angenehm kurz waren, und Besen schüttelte neben ihr sein Reisig aus, dass der Tau in alle Richtungen sprühte.

„Rücksichtsvoll wie immer“, knurrte Aylen und hob schützend eine Hand. Wie so oft fragte sie sich, ob Besen in all den Jahren nicht doch eine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte oder ob er wirklich ein Spiegelbild ihrer selbst war.

„Was denkst du? Ähnelt er mir?“, fragte sie die grauschwarze Stute, die an dem knorrigen Busch angebunden war, unter dem sie geschlafen hatte. Die Stute schnaubte gleichgültig und widmete sich dann wieder dem Gras.

Aylen hatte ein wenig Hunger, beschloss aber, bis zur nächsten Rast mit dem Essen zu warten. Die Grauen Elfen hatten ihr getrocknetes Fleisch, dünn gebackenes Brot, Nusskuchen und Honig mitgegeben, aber sie wusste nicht, wie lange sie mit dem Proviant würde auskommen müssen, darum ging sie lieber sparsam damit um. Sie stand auf, streckte sich noch mehr und schöpfte Wasser aus dem kleinen Strom, der hier über die Felsen floss und Büsche und Bäume zwischen die Felsen wachsen ließ. Sie wusch sich und trank, bis sie sich kalt und frisch fühlte wie die Morgenluft. Dann sattelte sie die Stute, band sie los, schwang sich auf ihren Rücken und ließ zu, dass Besen sich an ihre Schulter lehnte wie ein zutrauliches Haustier. Die Stelle, an der ihre Hand meistens auf dem Stiel ruhte, war weicher und glatter als der Rest; ansonsten schien Besen nie abzunutzen. Reisig, der einmal abbrach, wuchs immer nach, denn dem Holz wohnte Aylens Wille inne, zu leben. Manchmal knospte auch ein Zweig, grüne Schösslinge erschienen, und Aylen hatte einen Schwächeanfall, der wenige Atemzüge, Stunden oder gar mehrere Tage dauern konnte – je nachdem, wie schnell es ihr gelang, alles Grün abzuschneiden.

Sie setzte ihre Reise nach Nordwesten fort, wo das Reich der Weißen Elfen lag und in den tiefen Wäldern der Zauberberg Faysah. Wie weit es noch war, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie es vor dem Winter dorthin schaffen musste, um Lehrling des Erzmagiers der Elfen zu werden.

Eine Weile gab sie sich ihrem Hass auf Salemandra hin, der sie auf dem Berg Gothak zu Unrecht abgelehnt hatte. Aber an die Gemeinheiten zu denken, die man ihr angetan hatte, war auf Dauer zermürbend, und so wanderten ihre Gedanken bald zu angenehmeren Dingen. Die ernüchternde Wahrheit war, dass man sich auf langen Reisen irgendwie selbst beschäftigen musste und unweigerlich in Fantasien versank, die man zu Hause, während der Vorbereitung auf das große Abenteuer, noch als Zeitverschwendung abgetan hätte. Erlebnisse mit jungen Männern, an die Aylen damals allerhöchstens vor dem Einschlafen einen Gedanken verschwendet hatte, begleiteten sie jetzt ständig. Ein schmachtender Blick, ein paar süße, von Wein beflügelte Worte, Hände, die sich beim Tanzen um ihre Taille gelegt hatten, ließen sie in lange seichte Tagträume abdriften.

Aylen waren nie Herzen zugeflogen wie anderen Mädchen, die nach der Kindheit zu reizender Schönheit erblühten oder mit ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem bereitwilligen Lachen jede Situation mit Licht und Wärme zu erfüllen vermochten. Im Gegenteil, irgendetwas an Aylen weckte in anderen den Wunsch, sie zu verletzen – vielleicht, weil ihre magische Gabe so herausragend war und sie sich dafür nicht schämte, sondern Anerkennung einforderte. Das machte sie angreifbar, und Angriffe schüchterten sie nicht ein. Im Gegenteil, sie hatte eine wilde, geradezu selbstzerstörerische Freude daran.

Aber alle Feindseligkeiten waren wie vergessen, wenn getanzt wurde. Seit sie denken konnte, hatte sie sich zu Musik bewegt. Bevor sie bewusst gezaubert hatte, hatte sie getanzt – und wenn sie eins mit der Musik war, dann wurde sie beachtet, anerkannt und sogar geliebt. Dann konnte sie mit dem Finger auf einen Mann zeigen, und er kam zu ihr, zitternd vor Begehren, um mit ihr im Kreis zu wirbeln. Dann konnte sie die Frauen anlächeln, die sonst über sie spotteten, und die Frauen klatschten ihr zu.

Früher hatte sie nicht gewusst, dass ihr Tanz bereits Zauberei war. Erst mit fünfzehn kam sie darauf, während eines Bauernfestes, bei dem sie mit allen jungen Männern getanzt hatte, die ihr gefielen, und mit jedem anders – ein Zauberbann nach dem anderen, ohne dass sie es recht wusste. Fast einen Mond lang hatte sie danach ein Dutzend Verehrer gehabt, die um das Haus ihrer Tante schlichen und sie beim Hüten der Kühe belagerten, ehe der Zauberbann nach und nach von den jungen Männern abfiel und ihre Blicke wieder desinteressiert oder verstört über Aylen hinwegstrichen. Die Eifersucht der jungen Frauen hielt länger an.

Danach hatte sie eigene, merkwürdige Tänze ausprobiert, wenn sie allein war, zum Takt von Regen und dem Tropfen in Grotten, zu Gewitter und Vogelzwitschern. Sie hatte erprobt, wie sie rückwirkend mit ihren Bewegungen die Klänge verzerren konnte und mit den Klängen die Zeit und mit der Zeit die ganze Wirklichkeit. Aber sie hatte nur mächtiger werden wollen, statt ihre Gabe zu verstehen.

Die Gefahr von Macht, die sich selbst nicht begreift, musste sie bald am eigenen Leib erfahren. Sieben Monde lag sie nach dem fatalen Unfall im Haus ihrer Tante, zu schwach, um sich zu regen, während der Holzstab mit dem Büschel aus nackten Zweigen, die aus einem Ende sprossen, über ihr schwebte wie eine höhnische Erinnerung an ihren Fehler oder wie ein Todesurteil. Einen Sommer lang hatte sie ihn angestarrt, diesen unheimlichen beseelten Gegenstand, der einem Besen empörend ähnelte. Sie wuchs vom Tag des Unfalls an keinen Fingerbreit mehr, ihre Haut wurde fahl, die Ringe um die Augen dunkel, ihre Arme und Beine klapperig. Und egal wie viel Rinderbrühe sie trank, sie erholte sich nicht mehr, denn ihr Wille zu leben floss nun unablässig in etwas anderes ab.

In dieser Zeit, als ihr Leben auf der Kippe stand, hatte sie beschlossen, nicht zu sterben, ehe sie das Wesen der Zauberei ergründet hatte. Und vielleicht – vielleicht lernte sie bei dem Erzmagier der Menschen ja auch, wie sie den Zauber rückgängig machen konnte, der sie zugrunde richtete wie eine Wunde, die nie aufhörte zu bluten.

Ja, hätte sie Besen nicht erschaffen, hätte ihr Leben gewiss einen anderen Kurs genommen. Sie hätte früh einen hübschen Kerl durch Zauberei an sich gebunden, wie man es Hexen nachsagte, hätte Kinder großgezogen und kranke Kühe geheilt und wäre nie aufgebrochen, um die größte Zauberin von ganz Tana zu werden.

Sie überlegte, welcher junge Mann zu Hause dieses Verhängnis am ehesten hätte werden können, und vertrieb sich damit den Morgen.

Als die Sonne im Zenit stand, saß Aylen ab, um die Stute zu schonen, und wanderte neben ihr über die hellgrauen Felsen, zwischen denen raschelnde Gräser sprossen. Sie aß ein wenig Brot und Trockenfleisch und begann danach zu singen, um sich dadurch von ihrem ungestillten Appetit abzulenken. Die Lieder von zu Hause hatten hier, in der Ferne, einen anderen Klang. Wie fremde Vögel flatterten sie ins weite Land hinaus und wirkten ein wenig verloren.

Ich sollte nicht hier sein. Das war der Gedanke, der in ihr zitterte und auch ihren Gesang einfärbte. Ich sollte auf dem Berg Gothak sein, den ich erobert habe, und dort die Kunst des Zauberns von dem Erzmagier lernen.

Wohin würde ihre Reise noch führen? Sie fürchtete, dass der Berg Faysah nicht das Ende sein würde, aber sie wollte nicht zu viel auf diese dunkle Ahnung geben. Sie musste es so oder so versuchen.

Immer wieder drehte sie sich um und hielt Ausschau nach Verfolgern. Salemandra hatte sie in Gestalt eines Schattens vom Berg Gothak herab verfolgt und versucht, sie in der Nacht zu erwürgen. Aber Aylen hatte ihm seinen Zauber abgeschaut und sich ebenfalls in Schatten und Licht aufgespalten. Dass sie so von dem Erzmagier gegen dessen Willen lernte, war ihr ein besonderes Vergnügen. Sie hatte gemerkt, dass sie Salemandra mit einem falschen Licht oder Schatten in die Irre führen konnte, und seitdem mehrere gesponnen. Vermutlich folgte er gerade dem Stamm der Grauen Elfen, weil Aylen dort den Adler und die Schlange aus Schatten gelassen hatte. Die Vorstellung, ihn so an der Nase herumführen zu können, amüsierte sie.

Doch als sie sich diesmal umdrehte und wieder nach vorn blickte, begann Besen aufgeregt auf dem Sattel zu hüpfen. Besen bemerkte oft Dinge, die Aylens Bewusstsein nicht erreichten, und konnte sie so warnen. Aylen blieb stehen und sah noch einmal hinter sich. Sie kniff die Augen zusammen. Da war etwas am Himmel. Nur zwei schwarze Punkte, eng nebeneinander, als hätte der Horizont Augen bekommen. Doch sie wurden größer.

Aylen lächelte ein wenig, auch wenn ihr Puls schneller ging. Sie konnte erraten, was für Vögel es waren. Adler. Vermutlich Lehrlinge Salemandras und nicht er selbst. Womöglich sogar die beiden Nichtsnutze, die ihren Platz bekommen hatten. Wenn es die beiden waren, dann wünschte sie sich eine Konfrontation. Aber ihre Vernunft setzte sich durch. Sie beschloss, es nicht auf eine Begegnung ankommen zu lassen.

Sie hätte wieder ihren Schatten losschicken können, aber vielleicht hatten die Verfolger inzwischen gemerkt, dass sie ihnen damit entkam. Und da gerade ihr Gesang zum Spiegelbild ihrer Gedanken geworden war, wollte sie versuchen, hieraus einen Zauber zu spinnen.

Langsam ging sie weiter, eine Hand am Zaumzeug und die Verfolger im Blick, und nahm das Singen wieder auf. Es war ein einfaches, heiteres Lied über eine Lärche, die beschworen wurde, sich auf einem Finger niederzulassen. Natürlich war mit der Lärche eine Frau gemeint und mit dem Finger nicht wirklich ein Finger. Aber die Worte waren, ebenso wie die Melodie, nur Hüllen für ihre Empfindungen und Gedanken. Sie ließ alles hineinströmen: ihre Wut, ihre Hoffnungen, ihre Einsamkeit, ihre simplen Sehnsüchte, ihre Angst. Auch die Angst vor den Verfolgern. Sie durfte nichts verschweigen oder verstecken, nur so würde die Illusion glaubhaft werden. Sie würden sie hören und wissen, was in ihr vorging … und der unverfälschte Einblick in ihre Gefühle würde sie glauben machen, dass sie sie wirklich sahen.

Als ihr Gesang sie klar genug spiegelte, konnte sie sich davon lösen. Es fühlte sich an, als würde sie etwas Großes, Schwereloses von sich abzupfen. Und so war es auch. Sie schickte einen langen Atemstoß in die Luft. Ihre Stimme war weiterhin zu hören, obwohl sie nicht mehr sang. Die Stute spitze die Ohren. Sie merkte, dass die Wirklichkeit sich aufgetan hatte und etwas Neues hineingehuscht war wie ein Lichtreflex.

Aylen ging weiter, pustete bei jedem Ausatmen, und der Gesang schwebte, getragen von diesem zarten Windhauch, in die andere Richtung davon wie eine unsichtbare Blase aus Klang. Nach ein paar Schritten begann Aylen dort, wo der Gesang waberte, eine Gestalt zu erkennen, die denselben Gang hatte wie sie. Das einzig Verräterische war, dass diese Gestalt Zaumzeug in der Hand hielt, das an nichts festgemacht war, und dass sie kein Besen begleitete.

Aylen schwang sich auf die Stute. „Und jetzt ein kleiner Sprint, ja? Danach hast du dir eine Pause verdient.“

Sie drückte ihre Fersen in die Flanken der Stute, diese galoppierte los, und Besen schoss wie ein Speer hinterher.

Das graue Rückenfell des Pferdes glänzte vor Schweiß, und auch Aylen atmete schwer, als sie endlich erlaubte, dass es in Trab fiel. Inzwischen stand die Sonne im Westen, und die hellgrauen Felsen des Hochlands hatten einen rosigen Schimmer angenommen. Ihre Verfolger waren längst vom Kurs abgekommen – sie waren dem kleinen Fluss Richtung Südosten gefolgt, wohin der Wind ihren Gesang getragen hatte, während Aylen sich nach Nordwesten gehalten hatte.

Aylen sah sich um. Vor ihr, wo die Nacht bereits über den Horizont kroch und der Welt ihre Farben entzog, fielen ein paar schroffe Klippen ab. Sie glaubte ein Rauschen zu hören, das vielleicht nur der Wind war, vielleicht aber auch Wasser.

Sie trieb die Stute zu den Klippen, saß ab und führte sie an den Zügeln durch schmale Spalten und an Vorsprüngen entlang in die Tiefe. Grillen zirpten in der Dämmerung, und irgendwo quakten Frösche. Aylen folgte dem Froschquaken. Schließlich fand sie einen Bach, der unter dichten Büschen dahinströmte und kurz darauf einen Tümpel speiste. Sie schöpfte aus dem Bach, wo er am lautesten über die Felsen stürzte, und ging im Kreis um die Stute, wobei sie das Wasser zwischen ihren Händen hervorrinnen ließ. Sechsmal machte sie das, wobei sie versuchte, mit jedem Schritt den Rhythmus des rauschenden Baches zu halten und ebenso rauschend durch die Zähne ein- und auszuatmen. Dann ging sie mit gesenkten Augen an dem Kreis entlang, gefolgt von Besen, und lauschte. Wo sie das Wasser vergossen hatte, hing ein Rauschen über dem Gras, als würden gleich mehrere wilde Bäche vorbeiströmen. Es war nur eine Klangillusion, aber wie schon ihr Gesang zuvor konnte das Gehörte beeinflussen, was jemand sah.

Sie trat aus dem Kreis heraus und kletterte ein Stück weiter weg auf die Felsen. Von hier oben aus, nur einen Steinwurf entfernt, waren Besen und die Stute nicht mehr zu erkennen. Stattdessen sah sie dunkel schimmernde Bäche durchs Gras fließen.

Zufrieden kehrte sie in den Bannkreis zurück. Sie nahm den Sattel von der Stute und streichelte sie. Noch immer zitterten die Muskeln des großen Tieres. Doch es hatte begonnen, die saftigen Gräser und Wildblumen am Ufer abzugrasen, und auch Aylen bediente sich an ihrem Proviant, froh, dass sie nicht auf Froschfang gehen musste. Nicht nur, weil Frösche keine besonders üppige Mahlzeit waren, sondern auch, weil sie so kein Feuer brauchte, um sich ihr Essen zuzubereiten. Vermutlich wäre der Zauber stark genug gewesen, um das Feuer zu verbergen, aber riskieren wollte sie es lieber nicht. Schon jetzt blickte sie alarmiert auf bei jeder Fledermaus, die durch den Abendhimmel flatterte.

Dunkelheit schien aus den Dingen selbst zu wogen. Dann glühten die Sterne am Firmament auf. Aylen ließ sich auf den Rücken sinken und durchwanderte die endlose Weite des Himmels mit ihrem Blick. Es hieß, dort oben, noch jenseits der Sonne und des Mondes, läge die Sphäre des Götterlichts, in der keine Zeit existierte, sondern Ewigkeit. Darum standen die Sterne in Wahrheit still. Dass sie sich zu verschieben schienen, lag nur an der Bewegung Tanas – denn hier unten war alles endlich, alles im Wandel, ein Kampf zwischen der Ewigkeit oben und der Ewigkeit unten. Die unten nannte man Geisterschatten. Sie war das Spiegelbild des Götterlichts, das exakte Gegenteil. Aylen fragte sich, ob dort unten ebenfalls Sterne glommen, tief im Schoß der Erde. Die glänzenden Metalle und funkelnden Kristalle, die man mancherorts ausgraben konnte, ließen jedenfalls darauf schließen.

Sie hatte geglaubt, vor Nervosität wegen ihrer Verfolger die ganze Nacht keinen Schlaf zu finden, aber morgens erwachte sie mit einem Schreckenslaut mitten in dichtem Nebel, ohne sich zu erinnern, wo sie war. Für einen Moment wähnte sie sich zurück auf den verschneiten Höhen von Gothak, in der tödlichen Kälte, in der sie die Stimmen böser Zauber fast dazu überredet hatten, sich in die Tiefe zu stürzen.

Erst das Schnauben der Stute neben ihr brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Zitternd wischte sie sich über das Gesicht, auf dem sich der Dunst mit ihrem Schweiß mischte. Sie ärgerte sich über ihre eigene Ängstlichkeit, stand auf und pinkelte neben einen Strauch. Das Rauschen des Schutzbanns war noch zu hören, wenn auch nur leise, und immerhin würde der Nebel sie noch eine Weile vor Blicken aus der Luft schützen.

Sie sattelte die Stute und brach auf. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum das Gras sehen konnte, in das die Pferdehufe traten. Wenn die Sonne höher stieg, würde sie ihn sicher wie Rauch auflösen. Doch obwohl es heller wurde, zeigte sich kein Sonnenstrahl. Der Himmel musste dicht bewölkt sein und die Feuchtigkeit herabdrücken. Oder ging es nicht ganz mit rechten Dingen zu? Aylen rieb nervös am Besenstiel und widerstand dem Drang, sich immer wieder umzudrehen, denn sie konnte ohnehin nichts sehen – erst recht nicht, wenn es ein zauberischer Nebel war. Wie konnte sie also prüfen, ob sie sich in einer Falle befand?

Zuerst musste sie sich von ihren Gefühlen unabhängig machen. Aus Angst heraus würde sie immer nur reagieren und nichts erschaffen, was aber die Voraussetzung für Zauberei war.

Um sich zu beruhigen, begann sie, die Stute beruhigend zu tätscheln. Weil alles alles spiegelt.

„Wir müssen noch einen Namen für dich finden“, murmelte sie. „Wie würdest du denn gern heißen? Oder hast du schon einen Namen, den ich erraten muss?“ Sie kraulte ihr die schwarze Mähne. „Einen Namen, der dein sanftes Wesen spiegelt? Heleta, die Ruhe?“

Die Stute ließ ein paar Pferdeäpfel fallen.

„Na gut, nicht Heleta also! Vermutlich ist es anmaßend, dich nach deinem Wesen zu benennen. Ich kenne dich ja noch gar nicht so gut. Soll ich dich lieber nach deinem Aussehen benennen? Darüber gibt es auch Schönes zu sagen. Dämmerung?“

Die Stute schüttelte tatsächlich den Kopf. Sicher war es nur Zufall … aber eigentlich glaubte Aylen nicht an Zufälle. „Dämmerung ist zugegebenermaßen ein bisschen abgedroschen. Also etwas Einfacheres. Du siehst auch aus wie Asche und Kohle, so grauschwarz. Ascheko? Was hältst du davon?“

Die Stute trabte gelassen weiter.

„Ascheko“, wiederholte Aylen. „Kein Einspruch. Dann bleiben wir fürs Erste dabei. Aber lass mich wissen, wenn der Name sich nicht mehr richtig anfühlt. Hörst du, Ascheko? Wenn du dich weiterentwickelst und dich irgendwie nicht mehr wie Ascheko fühlst … Na ja, wir können über alles reden.“

Sie strich weiter durch die Pferdemähne. Es hatte funktioniert – die Ruhe, die sie dem Pferd eingeflößt hatte, war in sie selbst geströmt. Nun konnte sie sich überlegen, wie sie mit ihren möglichen Verfolgern umging. Hier im Nebel hatte sie keinen Schatten, den sie als Illusion fortschicken konnte. Besser, sie versuchte wieder einen Klangzauber. Doch durch den Nebel würde ihr Gesang weithin zu hören sein, und vielleicht war das die Falle – dass sie sich verriet, indem sie laut wurde.

Sie rätselte noch, was sie tun sollte, als der Dunst in Bewegung geriet und vor ihr aufriss. Gleißende Sonnenstrahlen stießen aus dem Himmel auf die Erde herab. Aylen zügelte Ascheko.

Vor ihnen erstreckten sich bis in die Ferne tiefgrüne Hügel, umhaucht von Sonnenlicht, und aus den Tälern wallte der Dunst wie Abbilder der Drachen, die angeblich in den Zauberbergen gefangen gehalten wurden. Dies war nicht mehr die Hochebene der Grauen Elfen. Dies war das Waldreich der Weißen Elfen.

Und in seinem Herzen thronte der Berg Faysah.

*

*

*

Kapitel 11

Nireka öffnete die Augen, als ein sanfter Stups des Drachen sie aus der Vergangenheit hinausbeförderte. Wie seltsam, wieder in ihrem eigenen Körper zu sein. In ihrer eigenen Zeit.

Die Sonne brütete im Westen, ein glosender Fleck in den Wolkenbänken. Ohne diesen Anhaltspunkt hätte Nireka erst nicht sagen können, ob wenige Atemzüge oder ganze Tage verstrichen waren. Doch der Duft der bratenden Fische verriet ihr, dass es nun Zeit war, zu essen.

„Lass sie nicht verbrennen“, sagte Aylen.

Nireka erwiderte den stillen Blick des Drachen. Sie konnte jetzt nur noch die Zauberin in ihm sehen. Sicher war das der Grund, warum Aylen ihre Erinnerungen mit ihr teilte: Sie wollte als Frau erkannt werden. Sie wollte, dass Nireka verstand, warum sie die Erzmagier besiegt und die Drachen auf die Welt losgelassen hatte. Aber es gab keine Rechtfertigung dafür. Es durfte keine geben!

Nireka erhob sie sich und kümmerte sich um das Essen. Ihre Knie und Hände zitterten. Sie dachte, sie könnte nichts hinunterbekommen, aber ihr Hunger war stärker als alle anderen Gefühle. Sie nahm die Fische vom Spieß und musste sich zwingen, langsam zu essen. Wenn man längere Zeit nichts zu sich genommen hatte, sollte man nicht schlingen, das lernte jedes Kind in Ydras Horn. Der Gedanke an ihre Heimat tat weh; alles kam ihr so fern, so klein und unbedeutend vor. Was war schon ihre Heimat? Ein Ort, der für eine Weile bestand, ein paar Herzen, die in Angst schlugen und verstummten. Erinnerungen, die mit dem letzten Atemzug verwehten. Selbst Aylen, die die Welt verändert hatte und noch Jahrhunderte später am Leid von Hunderttausenden Mitschuld trug, war vergessen worden. Ersetzt und namenlos gemacht durch eine gemeine Legende.

Aber nein, das stimmte nicht. Aylen war nicht vergessen. Sie war unsterblich, ganz gleich, ob sie ihre Erinnerungen teilte oder nicht. Sie war ein Drache.

Nirekas Finger zitterten nun so sehr, dass sie aufhören musste, zu essen. Die Wirklichkeit schien ihr zu entgleiten. Saß sie tatsächlich hier und schaute in die Vergangenheit einer Bestie? Die Vorstellung, dass Drachen einmal Frauen wie sie gewesen waren, schockierte sie nicht nur, es zerstörte sie, langsam und mit Verzögerung.

„Geht es dir gut?“, fragte der Drache.

„Ja“, murmelte Nireka, dankbar, dass er nicht in ihren Gedanken sprach und in sie hineinhorchte, wie er es ja auch durchaus konnte.

„Du hilfst mir, mich zu erinnern“, sagte der Drache. „Ich … ich habe keinen guten Zugang zu meinem Gedächtnis. Wenn du in meine Vergangenheit tauchst, bringst du die Dinge erst wieder für mich ans Licht. Ich danke dir. Wenn du fertig gegessen hast, können wir weitermachen.“

„Bist du nicht hungrig?“, fragte Nireka und biss sich erst danach auf die Zunge. Natürlich fraßen Drachen keine Fische.

„Ein Drache ist kein Lebewesen. Ich muss nicht essen, trinken oder schlafen. Ich brauche nur eine Quelle.“

Mich, dachte Nireka.

So ist es, hallte die klanglose Stimme in ihr herauf.

„Bitte mach das nicht“, sagte Nireka. „Einfach so … auftauchen.“

„Du bist selbst aufgetaucht.“

„Unabsichtlich.“ Nireka atmete tief durch. Wenn ein Drache nicht frisst, was hast du dann mit Sabriel gemacht?

„Das war jetzt Absicht?“, fragte der Drache.

„Ja. Ich übe.“

Nun, ich habe Sabriel … Der Drache schien nach Worten zu suchen. Schließlich sagte er laut: „Ich habe Sabriels Lebenswillen in mich aufgenommen. All die Kraft, die sie in sich angesammelt hatte. Es sieht so ähnlich aus, wie wenn ein Lebewesen frisst, stimmt.“

Nireka blickte auf ihre Essensreste hinab und wusste, dass sie nichts mehr davon zu sich nehmen konnte. Es tat ihr leid um die Fische. Der Zauberbesen kam und kehrte die Reste vorsichtig zusammen.

„Das habe ich ihn noch nie tun sehen“, bemerkte Aylen verblüfft. „Sich wie ein Besen verhalten, meine ich. Die lange Zeit allein hat ihn wunderlich gemacht.“

„Wenn er kein Besen ist, was ist er dann?“

Der Drache zögerte. „Ein Teil von mir.“

Als hätte der Besen ihn gehört, flog er zu dem Drachen und strich ihm zärtlich um die Wangen.

„Nicht mit all den Fischresten, Besen“, murrte der Drache gutmütig und neigte sich weg, um eine Tatze auf den Zaubergegenstand zu legen.

„Du nennst ihn Besen, obwohl er keiner ist“, sagte Nireka und dachte nach. „Ich habe dich erweckt, indem ich deinen Namen gesagt habe, nicht wahr?“

Der Drache nickte. „Auch dafür danke ich dir.“

Nireka wollte gerade zugeben, dass es eher ein Versehen gewesen war, da richtete sich der Drache plötzlich auf, die Augen weit aufgerissen. Sabriel!

„Was ist mit …“

Sag ihren Namen nicht, donnerte die Stimme in Nireka, sodass sie zusammenfuhr.

„Ich Idiot“, fauchte der Drache, und Feuer zischte links und rechts aus seinem Maul. Hektisch begann er zwischen den Wogen zu suchen.

Nireka schluckte schwer. Wenn auch ein besiegter Drache dadurch erwachte, dass jemand ihn beim Namen nannte … dann betete sie, dass Sabriel außer Hörweite war.

Der Drache hielt inne. Er schien etwas gefunden zu haben. Ich hatte gehofft, das Ei wäre von den Wogen raus ins Meer getragen worden. Aber es war hier. Die ganze Zeit.

Nireka fühlte Aylens Panik, noch bevor der Drache sich umdrehte und den Kristall hochhielt, der dumpf knackte und schon nicht mehr ganz eiförmig war.

Was jetzt?, fragte Nireka. Wird sie wieder … schlüpfen? Müssen wir sie nochmal besiegen?

Der Drache stieß ein tiefes Stöhnen aus, das weit über das Meer wehte. Entweder das, oder wir verhindern das Wachstum ihres Drachenkörpers.

Wie denn?

Besen drehte sich nervös im Kreis wie eine Spule, und es dauerte eine Weile, bis Aylen sich zu einer Antwort durchringen konnte. Indem wir Sabriel in einen Zauberberg bannen.

Laut sagte der Drache: „Wenn wir fliegen, erreichen wir Tahar’Marid vielleicht in vier Tagen. Er ist der nächste Zauberberg.“

Nireka schluckte schwer. „Wir?“

Der Drache blitzte sie an. „Du kannst mitkommen und mir als Quelle dienen. Oder du bleibst hier, und wir lassen sie noch einmal schlüpfen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte er am Turm empor, dass der Salzstein knirschte. Nireka sah das kristallene Ei in seiner Klaue. Für einen Augenblick erkannte sie in dem goldbraunen durchscheinenden Gestein den Umriss der wahren Bestie – die Mörderin, wie sie wirklich aussah: langes, dunkles Haar, ein rundliches, eher fröhliches Gesicht.

Nireka wurde schlecht. Sie musste wegsehen.

„Wir können nicht einfach nach Tahar’Marid reisen“, sagte sie. „Ich habe doch erzählt, dass die Leute um den Zauberberg nicht versteckt leben, sondern unter freiem Himmel. Ihre Felder und Weiden werden nicht verbrannt, denn Tahar’Marid steht unter dem Schutz eines mächtigen Drachen, der alle anderen Bestien fernhält. Der Preis dafür ist, dass ihm sämtliche Bewohner von Tahar’Marid geopfert werden müssen, die von Geisterschatten besessen sind.“ Nireka verschränkte fröstelnd die Arme. „Du siehst, weder du noch ich sind dort sicher.“

„Wie heißt der Drache?“

Nireka zuckte mit den Schultern. „Bis ich dich getroffen habe, wusste ich nicht, dass Drachen einmal Frauen waren, geschweige denn, dass sie Namen hatten.“

Der Drache schien nachzudenken. Dann sagte er: „Der Drache von Tahar’Marid ist nur ein Grund mehr, hinzufliegen. Ich werde versuchen, mit ihm zu reden.“

„Er wird versuchen, dich umzubringen“, sagte Nireka. Und mich, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Das werden wir verhindern. Steig auf.“ Der Drache neigte den Kopf und bot ihr offenbar an, in seinen Nacken zu klettern.

Nireka hätte abgelehnt, wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Aber war es eine Option, in dem verfallenen Turm im Meer zu bleiben, ohne Boot? Mit einem Drachen, der bald schlüpfen würde? Sie überwand sich und trat näher. Aylens Schuppen waren spiegelglatt. Doch in den Fugen dazwischen fand Nireka Halt, bis sie sich an den Hörnern entlang der Wirbelsäule hochziehen konnte und der Drache ihr mit einer leichten Kopfbewegung nachhalf. Sie unterdrückte einen Laut des Entsetzens, als sie unvermittelt rittlings in seinem Nacken saß. Dann hob er den Kopf, sodass sie hoch über der Turmspitze schwebte, und spreizte die Flügel. Sie klammerte sich an einem Horn fest und fühlte, wie sie mit dem Rücken gegen das hinter ihr rutschte.

„Weißt du inzwischen, wie du fliegen kannst?“, rief sie ihm zu. Bei deinem ersten Versuch sah es noch nicht danach aus.

„Ich werde es jetzt lernen“, grollte der Drache.

Irrte sich Nireka, oder war da ein vergnügter Unterton in seiner Stimme?

„Bist du bereit?“, fragte er.

Nein.

Aber da stieß er sich bereits von dem Turm ab, das Ei fest gepackt, segelte in den Himmel … geriet plötzlich ins Trudeln … und raste mit flatternden Flügeln in die Tiefe.

„Aylen, flieg!“, stieß Nireka aus.

Für einen Augenblick spürte sie, dass sie mit der Nennung des Namens ein Tor in den Drachen aufgestoßen hatte, und zwar ein gewaltiges. Er zuckte zusammen und fing sich fast noch vor dem Aufprall – aber nur fast. Wie ein Pfeil schoss er über das Meer hinweg, dann durchbrach er mit einem gewaltigen Platschen die Wasseroberfläche. Seine Flügel schützten Nireka leidlich. Gischt sprühte auf, während er strampelte, den Kopf gereckt wie ein Schwan. Sie kniff die Augen zu und klammerte sich an ihm fest. Für eine Weile schwamm er mit flatternden Flügeln und reckte sich vergebens in die Höhe, das Kristallei fest in den Klauen. Sie sah ihn mit den Tatzen paddeln. Die kräftigen Flügelschläge gaben ihm Geschwindigkeit und hoben seinen Leib ein Stück empor, sodass es aussah, als würde er auf dem Wasser laufen. Aber er löste sich nicht von der Oberfläche.

Besen flog mit zitterndem Reisig neben ihnen her, und Nireka wünschte sich, sie könnte auf ihm fliegen statt auf Aylen. Mühsam flatterte, schwamm und strampelte der Drache. Wie lange er das durchhielt! Die Kräfte, die seinem Körper innewohnten, schienen so unerschöpflich wie seine Flugversuche vergeblich. Doch endlich siegte seine Stärke. Seine Hinterläufe verließen das Wasser. Sie hoben ab!

Die Luft krachte unter seinen Schwingen. Rasch gewannen sie an Höhe. Nireka stieß einen Schrei aus, weil die Angst in ihr sich Bahn brechen musste. Aber als sie sich etwa zwanzig Meter über dem Meer eingependelt hatten und sie sich an die Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen gewöhnte, gelang es ihr nach und nach, etwas lockerer zu werden. Sie musste sich nicht mit aller Macht festklammern. Solange er keine unvorhersehbaren Flugmanöver vornahm, hätte sie sogar das Horn loslassen und sich gegen das Horn hinter ihr lehnen können. Nicht, dass sie so verrückt gewesen wäre, sich tatsächlich zu entspannen.

Besen schoss mit klapperndem Reisig neben ihr her, was ihr einen gewissen Trost spendete. Nireka redete sich ein, dass er sie auffangen würde, wenn sie stürzte. Sofern der Zaubergegenstand wirklich ein Teil von Aylen war.

Unter ihnen raste das Meer dahin, eine scheinabr endlose, eintönige Fläche aus Grau und Blau. Die Wellen sahen von hier oben so harmlos aus. Dabei hätte Nireka nicht lange da unten als Schwimmerin überlebt. Über die tödliche Gefahr des Meeres einfach so hinwegzujagen, erfüllte sie mit einem ungewohnten Gefühl von Freiheit. Und Macht. Dabei war es ja nicht ihre Macht, sondern die des Drachen. Wie leicht sich das vergessen ließ.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, da tauchte am Horizont bereits die Küste auf. Nireka wusste, dass ein Segelschiff von Ydras Horn bis zum Festland bei gutem Wetter mindestens einen Tag brauchte. Den Drachen hatte es viel weniger Zeit gekostet.

Tatsächlich hatte Nireka noch nie das Festland gesehen, sondern immer nur davon gehört. Eine merkwürdige Aufregung erfasste sie. Immer näher kam das Land, das links und rechts bis in die Ferne weiterging, und dann waren sie mit einem Rauschen über die Klippen hinweg und segelten über grüne Hügel, schroffe Felsen und dürre Bäume. Der kühle, feuchte Hauch verschwand, der bis jetzt mit jedem Flügelschlag aufgewirbelt worden war, und ein warmer, trockener Wiesenduft umfing sie. Nirekas bisheriges Leben schien noch kleiner, noch ferner. Nie war sie so weit von ihrer Insel fortgekommen – und es war nicht einmal wirklich weit. Sie wäre alt geworden und gestorben, ohne je Gewissheit zu haben, dass es überhaupt ein Festland gab. Riwan kam ihr in den Sinn, und endlich verstand sie, warum er gefragt hatte, ob sie sich nicht manchmal zu Hause gefangen fühlte.

Wälder tauchten unter ihnen auf, zerzaust und kahl im Sonnenschein. Hier und da sah Nireka Flüsse glitzern und bekam Durst. Aber der Drache flog und flog, als kenne er keine Erschöpfung. Oder als wüsste er nicht, wie er landen sollte. Im Meer hatte er sich einen Bauchplatscher erlauben können, aber hier? Nireka schickte in Gedanken ein Stoßgebet an ihre Ahnen, ihr beizustehen.

Einmal roch Nireka Feuer, und als sie sich umsah, entdeckte sie nicht weit entfernt Rauchfahnen, die der Wind zwischen grün bewachsenen Klippen verwehte. Dörfer. Sie zweifelte nicht daran, dass die Leute den Drachen gesehen und so eilig wie möglich das Feuer gelöscht hatten. War auch Nireka von dort unten sichtbar? Sie versuchte sich ihre eigene Reaktion auszumalen, wenn sie jemanden im Nacken eines Drachen entdeckt hätte. Mit einem fliegenden Besen an der Seite. Vermutlich hätte sie ihren Augen nicht getraut.

Die Flüsse weiteten sich zu Tümpeln und Teichen, und weite Sumpfwiesen mit gelben und rosa Blumen erstreckten sich unter ihnen, als das letzte Tageslicht erlosch.

Ich werde versuchen zu landen, sagte Aylen.

Versuchen? Nireka klammerte sich am Horn fest. Wollen wir nicht lieber einen See oder so etwas dafür suchen?

Aber da hatte der Drache bereits aufgehört, mit den Flügeln zu schlagen, und neigte sich zur Seite, um auf einer Wiese zu landen. Er bekam die Kurve nicht ganz hin und begann heftig zu flattern, um nicht in ein paar morsche Bäume zu krachen. Vogelschwärme ergriffen nah und fern die Flucht. Schließlich landete er polternd auf der Erde, galoppierte durch Sträucher und Sumpfland und kam endlich auf einem Gewirr aus Ästen zum Stehen, die von einem gemächlichen Bach zusammengeschoben worden waren.

Nun, da der Wind ihr nicht mehr um die Ohren brüllte, hörte Nireka das schwere Atmen des Drachen. Seine Flügel zitterten, als er sie an seinen langen, schmalen Leib anlegte. Das Fliegen zehrte also doch an seinen Kräften.

„Das lief besser als erwartet“, schnaufte er. „Du musst durstig sein.“

Er neigte den Kopf zum Ufer des Baches, sodass sie absteigen konnte.

Sie kletterte hinunter. Als ihre nackten Füße im Moos versanken, kam ihr ein Seufzen über die Lippen. Sie hatten es geschafft. Wie viele Wunder hatten geschehen müssen, damit sie jetzt noch lebte, konnte sie schon gar nicht mehr aufzählen. Sie sank ans Ufer, schöpfte Wasser und trank nicht nur, sondern wusch sich auch den Angstschweiß vom Gesicht.

Der Drache untersuchte das Kristallei, in dem Sabriel ihren Schlaf der Ewigkeit hielt. Mit einer Kralle fuhr er an der Oberfläche entlang und knurrte, als er Unregelmäßigkeiten entdeckte.

Wie viel Zeit bleibt uns noch?, fragte Nireka.

Schwer zu sagen. Vielleicht ein Viertelmond, vielleicht eine Nacht. Wir haben ihren Namen oft gesagt, aber von weiter weg. Und auch nur innerhalb kurzer Zeit und dann nicht mehr. Vielleicht haben wir Glück, und das verzögert ihr Wachstum.

Besen hatte inzwischen Laub und Zweige zu einem Haufen zusammengekehrt, und der Drache ließ ihn in Flammen aufgehen. Zufrieden sah er Nireka an. Das Lagerfeuer war offenbar für sie.

„Wenn du willst, zeige ich dir mehr von meiner Geschichte“, bot der Drache an.

Nur dass es nicht wirklich ein Angebot war, sondern eine Bitte. Nireka ahnte, dass er sich selbst in Erinnerung bringen wollte, wer er gewesen war. Über dreihundert Jahre in einem Ei zu verbringen hatte gewiss so manches ins Dunkle abdriften lassen. Die Verlassenheit, die in ihm herrschen musste, konnte sie sich kaum vorstellen, und ein Teil von ihr sträubte sich auch, Mitgefühl mit einem Drachen zu haben. Andererseits musste sie wissen, was damals vorgefallen war …

Sie ahnte, dass der Drache alle diese Gedanken hören oder zumindest erraten konnte, und sein stilles Verständnis überzeugte sie schließlich.

„Gut“, sagte sie, schloss die Augen und trat hinüber.

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

8 thoughts on “Das Zeitalter der Drachen

  1. Ich freue mich schon auch dieses tolle Buch von dir im Regal stehen zu haben. Die Leseprobe macht Lust auf mehr. Seit du mir 2019 in Leipzig die Töchter von Ilian so toll signiert hast warte ich sehnsüchtig auf Nachschub aus dem Hause N(g)uyen. 😊

  2. Ayleens Zauberei bleibt weiterhin sehr poetisch. Wie sie mit Tanz und Musik arbeitet, und wie sie Spiegelbilder erschafft, wo sie ihr eigenes, vollständiges Wesen hinein legt. Ganz angenehm fand ich auch der für die Handlung vermutlich unwichtige, aber dennoch sehr netter Dialog mit der Namensgebung des Pferdes. Es zeigt, dass Ayleen zwar vielleicht etwas zu sehr nach Macht und Anerkennung strebt, aber im Grunde dennoch ein guter, einfühlsamer Mensch ist.

    Ich finde auch ihren Umgang mit Nireka sehr respektvoll. Auch wenn sie sie natürlich als Quelle braucht, und auch zur Aufarbeitung ihrer Erinnerungen, so spielt sie dennoch ihre enorme Überlegenheit nie aus, und behandelt Nireka immer noch als Menschen. Vielleicht ist sogar bei den anderen Drachen das Hauptproblem, dass sie keine “normale” Beziehungen mehr mit Quellen haben, die ihnen helfen könnten, sich an ihre frühere Menschlichkeit zu erinnern. Vielleicht ist gerade Nireka ein wichtiges Element, um zu verhindern, dass Ayleen zum seelenlosen Wesen wird.

  3. Danke für die Leseprobe. Ich hatte das allererste Mal von dir in der bravo girl gelesen. Da wurde berichtet, dass du einen Fantasyroman geschrieben hast. Ein paar Jahre später las ich Nijura. Ich fand die Ausgabe leider nie wieder. Hab bis auf “heartware” und “kalt wie Schnee und hart wie Eisen” alle Bücher von dir gelesen. Meine Lieblinge waren “Das Drachentor” (obwohl es Langsamtiger als spätere Werke ist) und die Sturmjäger von Aradon.
    In Drachentor und Rabenmond hast du sehr verschiedene Arten von Drachen erschaffen umso gespannter bin ich auf die “neuen” Drachen.

  4. Moin Moin :-)

    Die Reise geht also weiter, und ich bin gespannt was ihnen dort erwartet, und vor allem… wird Sabriel schlüpfen`? Wenn ja, wird sie dann immer noch aufs kämpfen ausseien? Oder haben sich ihre Gedanken vielleicht verändert? Vielleicht kommt es ja gar nicht zum Kampf, sondern haben am Ende das selbe Ziel? Fragen über Fragen :-D
    Ich muss wohl, das Buch lesen, um auf alles eine Antwort zu bekommen :-p
    Meine Neugierde ist also geweckt (von Anfang an schon XD )

    Ich danke dir, auch hier wieder, das du uns schon vor ab an der Geschichte Teilhaben lässt (und meine Ungeduld eigentlich nur noch schürst XD )

    Grüßle
    Taroru

  5. Nachdem ich jeden Tag nachgesehen habe, geht es jetzt hier endlich weiter :-)! Vielen Dank, dass du trotz der Veröffentlichung noch ein Kapitel mit uns teilst <3
    Ich kann es nicht erwarten, dieses Buch endlich in Händen zu halten ……
    Dass Sabriel ein weiteres Mal ‚schlüpfen‘ könnte, war für mich wirklich sehr überraschend!

  6. Ich bin gespannt auf mehr ^-^ hoffe eine der glücklichen zu sein die das Buch in den Händen halten können. Ich verfolge Ihre Romane schon seid über 10 Jahren bestimmt plus minus ein wenig mehr oder weniger weniger ^^

Schreibe einen Kommentar zu Lena Bier Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert