27. Juni 2021

Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

Kapitel 2 – 3

Gemütlichen Sonntagmorgen wünsche ich euch! Und weiter geht’s mit Kapitel 2 und 3. Ich bin gespannt, was ihr nach dem Einstieg letzte Woche dazu sagen werdet, denn wir bleiben vorerst bei Kanemô und lernen ihre Welt etwas näher kennen. Bevor ich hier anfange zu spoilern (ich habe wenig gegen Spoiler und neige darum dazu), werde ich jetzt einen kleinen Spaziergang machen und mit Kaffee zurückkehren, um zu gucken, ob schon jemand geschrieben hat … Aber kein Druck! Na ja, vielleicht ein bisschen, hehe. Vieeeel Spaß. :)

*

*

2.

Es dauerte nicht lange, bis Kanemô ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte – ein paar Kleidungsstücke, ihr Perlmuttkamm, am Strand gefundener Bernstein und bestickte Taschentücher waren alles, was sie besaß. Als sie den Umhang zugeknöpft und den Quersack umgeschlungen hatte, schien ihre Schlafkammer um sie herum zusammenzuschrumpfen. Wie viele Nächte hatte sie hier gelegen und sich wie lebendig begraben gefühlt – und jetzt, da sie gehen durfte, wollte sie sich am liebsten unter der Bettdecke verkriechen! Aber sie hielt die Tränen zurück. Sich die Angst ausreißen … so wie Madurahan es gesagt hatte.

Nach kurzem Zögern legte sie ihr Diadem unter das Kissen von Perasias Bett. Sie war noch so klein, dass es ihr passen musste. Und weil Kanemô nicht gehen konnte, ohne Letanna auch etwas zu schenken, öffnete sie ihren Quersack rasch wieder und schob den Perlmuttkamm unter das Kissen der zweiten Novizin. Sie hatten sich oft gegenseitig damit frisiert.

Bei den Feueraltaren in der großen Halle warteten schon die zwölf Priesterinnen, die beiden Novizinnen und der Gesandte. Im Näherkommen erschienen Kanemô seine riesigen Augen, sein kurzer Leib und sein breiter Schädel noch merkwürdiger. Der Mann seinerseits musterte sie prüfend, ob sie diejenige war, die er suchte. Es war unangenehm, beinahe bedrohlich, von einem Fremden angesehen zu werden, nachdem sie zehn Jahre lang den Schleier einer Novizin getragen hatte. Sein Blick wanderte über ihre Haut, die einen grünlich-goldenen Schimmer hatte, studierte das hellgrau gesprenkelte Blau ihrer Augen und glitt über ihr Haar, das die Farbe von Gras hatte, kurz bevor es zu Heu verblasst. Zuletzt betrachtete er ihre Ohren, die spitzer zuliefen als bei den Menschen.

Als der Gesandte überzeugt zu sein schien, dass sie die Tochter der Königin war, einer Hohen Elfe von Madgar Yhs, und des gefallenen Königs, verneigte er sich vor ihr. „Prinzessin Kanemô. Es ist mir eine Ehre. Wenn Ihr gestattet, dass ich mich vorstelle – mein Name lautet Sagrik, Bibliothekar und Berater König Sagamenons des Dritten, Eures Vaters. Verzeiht, dass ich Euch keine komfortablere Art zu reisen anbieten kann, aber die Priesterinnen waren so gütig, uns zwei Esel zu geben – Eurem Stand nicht angemessen, aber besser als nichts.“

Kanemô dachte daran, dass sie nie auf einem Esel hatte reiten dürfen, wenn sie für Besorgungen zu den Dörfern geschickt worden war. Aber Sagrik hatte recht, einer Königstochter stand mindestens ein Pferd zu, wenn nicht eine Kutsche oder Sänfte. Nur war sie die längste Zeit ihres Lebens eine Novizin gewesen.

Sagrik verneigte sich nun auch vor den Priesterinnen. „Meine Ehrerbietung – und meinen tiefsten Dank.“

Kanemô kniete nieder und küsste den Priesterinnen die silbergeschmückten Hände. Sie wünschte, die Frauen wären nicht verschleiert. Obwohl sie nicht gerade liebevoll gewesen waren, hatten sie Kanemô doch aufgenommen und erzogen. Es gab niemanden auf der Welt, den sie länger kannte als diese zwölf verhüllten Gestalten. Sich das einzugestehen, tat weh.

„Mögen die Götter dich schützen“, sagte Silan förmlich.

Und Madurahan, beinahe flüsternd: „Mutter Mond stehe dir bei und zähle deine Schritte.“

Letanna und Perasia verneigten sich vor Kanemô, zitternd unter ihren Schleiern, und Kanemô konnte hören, dass Perasia ein Schluchzen unterdrückte. Kanemô wollte die Verneigung schon erwidern, aber ihr Herz drängte sie dazu, die beiden Mädchen zu umarmen. Mochte es auch unschicklich sein – das hier war wichtiger. Und als sie die beiden an sich drückte und von ihnen gedrückt wurde, spürte sie, wie sehr sie es bereut hätte, nicht den Mut dazu aufgebracht zu haben.

Die Esel waren mit zusammengerollten Lederdecken zum Schlafen und Taschen voll Proviant bepackt. Kanemô und Sagrik saßen auf und ritten auf dem gewundenen Pfad entlang der Küste davon. Zwischen den Wolkenbänken vor ihnen tauchte die Sonne auf, ein strahlendes Auge, das sich öffnete, bevor es hinter der Welt versank.

Sie ritten, bis Wolken das Mondlicht schluckten und die Finsternis sie zur Rast zwang. Zwischen hohen Felsen entfachte der kleine Mann ein Feuer, indem er eine Glasphiole öffnete und ein träge kriechendes, stinkendes Gas über ein Büschel Trockenmoos rinnen ließ – Kriechglut. So nannte man den entzündlichen Atem, den Drachen aushauchten. Kanemô hatte seit ihrer Zeit im Palast keine Kriechglut mehr gesehen, und es weckte die Erinnerung an Glaskugeln, in denen sich bunte Flammen wie im Schlaf räkelten.

„Ich dachte, es gibt keine Drachen mehr?“, sagte Kanemô.

„So ist es auch. Diese Kriechglut ist aus den letzten Vorräten von früher und sehr kostbar. Ich benutze sie nur, um Feuer zu entfachen“, sagte er mit seiner gequetscht wirkenden Stimme. „Verzeiht den üblen Geruch. Ich würde Rosenöl oder Zimtöl darüberträufeln, aber ich konnte nicht einmal das Nötigste mitnehmen, geschweige denn die Dinge, die das Leben angenehmer gestalten.“

Während das Trockenmoos glühte, huschte Sagrik hin und her, brach Zweige aus Büschen, sammelte Treibholz und vertrocknetes Schilf und fütterte das Feuer, bis es fröhlich flackerte.

Wie oft hatte Kanemô davon geträumt, ein Ritter würde kommen, entsandt von ihrem Vater, um sie zurückzuholen! Nicht selten hatte sie auch davon fantasiert, der Ritter würde sie vom Tod ihres Vaters unterrichten, weshalb sie wieder nach Hause dürfe. Und gelegentlich hatte sie sich sogar vorgestellt, dass jemand sie entführen würde … All diese Vorstellungen hatten gemeinsam gehabt, dass der Ritter schön und galant war und dass er sich auf der Reise in sie verliebte. Sagrik war weder schön noch galant, auch wenn er sich Mühe gab, sie zu umsorgen. Aber ganz sicher wollte sie nicht, dass er sich in sie verliebte.

Er goss Wintermilch aus einem Lederschlauch in einen kleinen Kessel über dem Feuer. Kanemô streute indessen den Eseln Hafer hin. Als die Tiere fraßen, tunkten auch Kanemô und Sagrik ihren Zwieback in den heißen Trunk aus Schafsmilch, Winterwurzelmehl und Mandelzucker.

„Ist der König mit Sicherheit tot?“, fragte Kanemô.

„Ja“, sagte der Bibliothekar nach einer Pause. „Der Anführer der Rebellenhorden hat ihn erschlagen. Sie haben seine Leiche zur Schau gestellt. Ich habe sie vor meiner Abreise gesehen.“

Sie schauderte, doch wohl nicht vor Entsetzen. Auch nicht vor Genugtuung, obwohl sie geglaubt hatte, ihren Vater zu fürchten und zu hassen. Nun merkte sie, dass das nicht stimmte. Sie kannte ihn schlichtweg nicht gut genug, um so viel für ihn zu empfinden. Die lähmende Ungerechtigkeit, die er ihr angetan hatte, war durch seinen Tod nicht gesühnt. Und vielleicht war es das, was sie schaudern ließ: die Willkür des Unrechts, das jeden treffen konnte, eine Königstochter und sogar den König des größten Reiches der Welt.

„Lebt meine Mutter noch?“, fragte sie.

Sagrik nahm sich einen weiteren Zwieback und füllte sich den Becher nach, bevor er antwortete. „Ich weiß nicht das Geringste über die Herrin Iriobal, verzeiht … Es war verboten, am Hof über sie zu sprechen.“

„Falls sie sich versteckt hält, könnte sie jetzt doch wieder auftauchen, da die Rebellen und die Hohen Elfen Ivenhall eingenommen haben, nicht wahr?“

„Das wäre die logische Schlussfolgerung.“

„Falls sie noch lebt.“ Eine Weile hing sie ihren Gedanken nach. Dann bat sie: „Erzählt mir mehr von dem Versteck, in das Ihr mich bringt.“

Er gluckste. „Meine Prinzessin, die Sümpfe selbst sind das Versteck. Hat man Euch schon einmal vom Sumpfland erzählt?“

„Es ist … nun, dort gibt es keine Fürsten. Und deshalb auch niemanden, der dem König von Ivenhall unterstehen könnte. Es ist unbeherrschtes Land.“ Sie biss sich auf die Lippe. Sie wusste so gut wie nichts über die Sümpfe. Wenn sie ehrlich war, wusste sie auch so gut wie nichts über das Großreich, das nun rechtmäßig ihr gehörte.

Sagrik nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Es ist allgemein bekannt, dass die Wirklichkeit nicht überall gleichermaßen fest ist. Sie hat eine harte, solide Oberfläche“, er klopfte auf den Felsboden, „und einen fließenden, flüssigen Kern. Diesen flüssigen Kern nennen wir den Nebel. Alle Zauberkunst, die wir kennen, zieht ihre Kraft aus dem Nebel. Eure Vorfahren, die Könige von Ivenhall, herrschten über die Menschen, weil sie als Einzige einen dauerhaften Zugang zum Nebel hatten, nämlich den Zauberkessel, der auf dem Eisenturm thront. Daran erinnert Ihr Euch gewiss. Euer Vater schöpfte oft aus dem Nebel des Zauberkessels die Bestien, die seine Herrschaft sicherten. Nun ja – bis zuletzt. Die Könige vor ihm haben mehr zauberisches Talent bewiesen, denn sie ließen Drachen aus dem Zauberkessel steigen, Euer Vater nur geringere Bestien. Darum konnte er von aufständischen Bauern mit Unterstützung der Elfen besiegt werden.“

„Und weil er den Verstand verloren hat“, sagte Kanemô leise. „Er hat den Verstand verloren, weil er zu viel Zeit vor dem Zauberkessel verbrachte. Das sagen die Leute doch?“

„Ich erlaube mir darüber kein Urteil. Aber es ist so, dass der Nebel im Grunde überall aufsteigen kann. Doch der erste König von Ivenhall war der einzige Mensch, der es je geschafft hat, den Nebel in ein Gefäß zu bannen, den Zauberkessel – und zwar mit einer Art Blutzauber, weshalb nur seine blutsverwandten Nachkommen seine Zauberkraft erben. Heute haben nur noch die Hohen Elfen von Madgar Yhs Zugriff auf den Nebel. In ihren Sommerwäldern haben sie einen zauberischen Brunnen. Sie schöpfen keine Bestien daraus, sondern nutzen ihn, um nach Belieben durch den Raum und sogar die Zeit zu schreiten, heißt es. Diese Zauberkunst behalten sie eigensüchtig für sich, weil sie das mächtigste Volk der Welt sein wollen. Aber einst wussten auch die Bewohner des Sumpflandes, wie man den Nebel ruft und aus ihm schöpft …“

„Die Zwerge?“

„So nennen die Menschen das alte Volk der Gokra. Und nicht ganz zu Unrecht. Denn die Gokra nennen sich selbst das Kleine Volk. Warum? Eine Legende besagt, dass vor langer Zeit, bevor es uns Sterbliche gab, die Götter der Erde gegen die Götter des Himmels in den Krieg zogen und verloren. Heute leben wir auf den Leichen der Erdgötter – den reglosen Bergen und Felsen. Eine der Erdgöttinnen war schwanger, als sie im Kampf fiel. Vater Sonne hatte Mitleid, ging zwischen ihren Schenkeln unter und wärmte ihren Schoß, sodass ihre Kinder lebend zur Welt kamen – unfertige, winzige Geschöpfe, die sich in Erinnerung an ihre riesenhaften Ahnen Gokra nannten – die Kleinen Leute oder Zwerge.“

Er leerte seinen Becher und füllte ihn ein weiteres Mal, nachdem er zuerst Kanemô von der Wintermilch angeboten und ihr den Becher nachgefüllt hatte. „Die Gokra waren viele Tausend Jahre das einzige Volk, das aus dem Nebel schöpfte und eine eigene Zauberkunst besaß. Die Elfen zogen damals heimatlos wie Wölfe durch die Wälder. Doch heute gibt es die Gokra kaum noch. Und der Nebel, aus dem sie einst schöpften, ist zwar nicht verschwunden, aber verwildert. Darum bewegt sich das Sumpfland auf unvorhersehbare Weise. Inseln aus löcherigem Gestein, Schädelberge genannt, tauchen auf und gehen unter im unsichtbaren Sog des Nebels. Die Schädelberge sind ausgezeichnete Wohnstätten dank ihrer Tunnelgänge und Höhlen und nicht zuletzt gibt es im gesamten Sumpfland nur bei den Schädelbergen fließendes, trinkbares Wasser. Wenn ein Schädelberg nach Jahren oder auch nach nur ein paar Monden im Nebel versinkt, müssen seine Bewohner ihre Heimat verlassen und einen anderswo aufgetauchten Schädelberg finden – darum nennt man sie auch Wandernde Städte. Und darum gibt es keine Fürsten oder Könige im Sumpfland. Alle paar Jahre werden die Karten neu gemischt!“ Er kicherte darüber.

„Also werde ich in diesen Wandernden Städten leben, bis Fürst Korigan einen Weg gefunden hat, mich nach Ofeha zu holen“, schloss Kanemô. Sie beobachtete Sagrik genau, denn von den Priesterinnen hatte sie gelernt, in Gesichtern zu lesen. Langsam fuhr sie fort: „Aber vielleicht besiegen die Rebellen Fürst Korigan. Und dann bleibe ich für immer im Sumpfland.“

Sie kannte seine Antwort, bevor er sprach: „Prinzessin Kanemô … Fürst Korigan wird die Rebellen nicht besiegen. Wenn Euer Vater mit seinen zweitausend Bestien es nicht konnte, können es Fürst Korigan und sein einziger Verbündeter, Fürst Morthog, erst recht nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Fürstentümer fallen.“

Kanemô blickte in die Dunkelheit, in der das dumpfe Krachen der Meeresbrandung zu hören war. Sie versuchte es sich vorzustellen – ein Leben im Verborgenen, von einem Schädelberg zum nächsten fliehend wie eine Ratte auf sinkenden Schiffen. Sie würde mehr Freiheiten haben als im Mondtempel, dafür aber wohl auch weniger Schutz. Im Grunde würde sich jedoch nichts ändern. Sie würde warten. Jahr um Jahr warten, dass ihr endlich Gerechtigkeit widerfuhr und sie den Platz einnehmen durfte, der ihr von Geburt her zustand. Sie würde alt werden, während sie wartete, und sie würde sterben. Ein Niemand, der jemand hätte werden sollen und nie geworden war.

„Ich will das nicht“, murmelte sie. „Ich will nicht die Hoffnung mit mir herumtragen, dass eines Tages irgendein Wunder passiert. Sie erdrückt mich, diese Hoffnung. Ich will vergessen, wer ich gewesen bin!“

„Ist das so?“ Sein spöttischer Tonfall durchschnitt ihr Selbstmitleid, und sie fühlte selbst, dass es eine Lüge gewesen war.

„Ob Ihr vergesst oder nicht, meine Prinzessin, die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen. Es gibt Fakten. In Euch fließt das zauberische Blut von Ivenhall und all Eure näheren Verwandten sind tot. Ihr seid die Letzte, die Bestien aus dem Zauberkessel schöpfen könnte.“ Er schob ein paar Zweige ins Feuer. „Zudem besagt das Gesetz, dass derjenige, der Euch ehelicht, Anspruch auf den Thron hat. Darum schickte mich Euer Vater los, um Euch vor den Rebellen zu verstecken. Aber was jetzt Eure Schwäche ist, kann morgen Eure Stärke sein. Ihr müsst nicht warten, dass Euch Gerechtigkeit widerfährt. Ihr könnt sie Euch erkämpfen.“

Sie dachte an Fürst Korigan, den Retter, den sie vermutlich niemals treffen würde. „Wie?“

„Das gilt es herauszufinden.“ Nun war es Sagrik, der ihr Gesicht studierte, als liege darin die Antwort.

Er schlürfte seine Wintermilch aus und hinter dem Rand des Bechers schien er zu lächeln.

*

*

3.

Zwei Tage ritten Kanemô und Sagrik an der Küste des Nordmeeres entlang. Anfangs sahen sie noch Dörfer auf den Rücken der Hügel, umgeben von Feldern und Schafherden. Doch bald wurde das Land kärger und die weißen Felsen schienen dem Meer die Zähne zu blecken. Das Meer warf sich schäumend dagegen und kreiselte in den Buchten wie von Sinnen. Weit draußen sahen sie einmal Wale vorüberziehen, ansonsten begegnete ihnen kein Lebewesen.

Die unendliche Weite des Landes bedrückte Kanemô so sehr, dass ihr das Atmen schwerfiel. Welche Bedeutung hatte ihr Schicksal in dieser riesigen, leeren Welt? Welchen Unterschied machte es, ob sie entkam oder gefangen wurde, lebte oder starb? Die Erde, der Himmel und das Meer griffen ineinander wie Hände, die nichts fühlten. Hände, die alles zwischen sich zerrieben, ohne es auch nur zu merken.

Kanemô vermisste Letanna und Perasia mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte. Die beiden waren wie Schwestern für sie gewesen. Dass sie die Novizinnen wahrscheinlich nie wiedersehen würde, war schwerer zu ertragen als jede andere Ungerechtigkeit.

Am dritten Tag ging es bergab und sie ritten durch Dünen und feuchte Marschen. Ein Weg aus Holzbohlen tauchte auf, der vom Meer fortführte. Sie folgten ihm vorbei an Flüssen und Wiesen, auf denen Hunderte von Gänsen und Kranichen auf ihrem Zug in den Süden Halt machten. Die Flüsse verwandelten sich in Bäche, die Bäche in Tümpel. Knorrige Bäume, über und über von Schlingpflanzen und Moos überwachsen, ragten aus der Erde wie auferstehende Tote, erstarrt in der Zeit.

Sie machten abends Feuer aus Wollgräsern, die im Wind knisterten, und erwachten morgens in einer vor Frost glitzernden Welt. Kanemô hatte den Nachgeschmack von Träumen im Herzen, die von Letanna und Perasia handelten und so traurig waren, dass sie alles in ihr zum Stillstand brachten. Aber in dieser Stille kam ihr ein Gedanke, der beinah tröstlich war: Sie hatte jetzt nichts mehr zu verlieren außer ihr Leben. Und ihr Leben war nicht nur etwas, das sie verlieren konnte; es war ein Einsatz. Um zu gewinnen, was auch immer ihr wichtig war.

Was ist mir wichtig? Gerechtigkeit. Mein Recht.

Sie probierte die Worte an, wie man Kleider anprobierte.

Was ist mir wirklich wichtig? Ich will … nicht hilflos sein. Ich will, dass die Angst weggeht.

Im Lauf des Tages ließ die Sonne den Frost zu Nebel verdampfen. Sie konnten kaum einen Schritt weit sehen und die Holzbohlen waren kaum noch zwischen dem Gestrüpp und Schlamm auszumachen. Nicht selten musste Sagrik absteigen und den Weg suchen, der teils im Sumpf versunken war. Nach einiger Zeit verbesserte sich der Weg dann merklich. Sie passierten eine Hängebrücke, deren Bretter nach frisch geschlagenem Holz rochen, und der Weg wurde zu einer breiten, gepflasterten Straße. Im Nebel vor ihnen tauchte ein großer, hoher Umriss auf … ein Berg. Und er leuchtete aus unzähligen Höhlen.

„Ein Schädelberg“, bemerkte Sagrik überflüssigerweise. „Die Stadt unter der Erde ist wohl noch deutlich größer, sonst würde nicht so eine aufwendig gepflegte Straße zu ihr führen. Wollt Ihr einen Besuch wagen, meine Prinzessin?“

„Was bleibt uns anderes übrig? Unser Proviant ist fast aufgebraucht.“

„Ich wollte Euer Gefühl entscheiden lassen, aber Ihr habt der Vernunft den Vorrang gegeben. Bravo, Prinzessin Kanemô. Nun denn, hinein ins Getümmel!“

Er gab seinem Esel die Gerte und sie ritten dem Berg entgegen. Bogenbrücken führten über quirlige Bäche. Als die Nebel sich noch mehr lichteten, bemerkten sie Wasserfälle, die aus dem Berg stürzten. Tatsächlich war der gigantische Felskoloss von einem See umgeben, der etliche Ströme speiste. Steinpfade verbanden das Ufer mit dem Berg. Es gab keinen Schutzwall, keine Wächter oder sonstige sichtbare Verteidigung. Kanemô und Sagrik ritten geradewegs in den Schädelberg hinein.

Der schmale Tunnel wurde von Torflichtern in Nischen des Gesteins erhellt. Es ging bergauf. Ein Summen war zu vernehmen, als befänden sie sich in einem Bienenstock, und gelegentlich lief ein Grollen durch die Erde.

„Merkt Ihr es?“, fragte Sagrik, als die Felsen besonders laut knackten und die Esel scheuten. „Der Schädelberg knirscht mit den Zähnen!“

Und ob Kanemô es merkte. Bei der Vorstellung, das Gewölbe ringsum bewege sich, brach ihr der kalte Schweiß aus. Doch sie trieb ihren Esel voran.

Dann wurde die Wand des Tunnels immer löcheriger und sank zu einer Art Geländer herab. Vor Kanemô erstreckte sich ein unermesslicher Komplex aus Terrassen, Hängebrücken, Tunnelgängen, Höhlen und Befestigungen, die vor Geschäftigkeit wimmelten. Durch Felsspalten fielen Schleier von Tageslicht, aber die meiste Helligkeit spendeten die Torflichter. Ihr schummeriger gelber Schein lag auf Tavernen, Verkaufsständen, aus Lehm und Wurzelgeflecht gebauten Nesthäusern und Treppen. Wasserfälle stürzten hier und da von Klippen und sammelten sich in Becken, umringt von Mühlen, dampfenden Garküchen und Badestätten. Kanemô konnte sich nicht erinnern, je so viele Leute an einem Ort gesehen zu haben, nicht einmal im Palast, als sie ein Kind gewesen war. Überall herrschte Gedränge. Mit Ochsen bespannte Wagen voller Gemüse, Hühnern und Kochgeschirr bahnten sich einen Weg vorbei an Lastenträgern, die Körbe auf dem Kopf balancierten, Frauen in gefärbten Kleidern mit klotzigem Schmuck, Elfen in Mänteln aus Marué, dem farbwechselnden Stoff – das Geheimnis seiner Herstellung wurde in Madgar Yhs gehütet –, und schwer bewaffneten Kriegern mit rasierten Schädeln bis auf einen Zopf entlang der linken Schläfe. An den Felsen kletterten Kinder. Es roch nach Feuchtigkeit und Feuer, nach Essen, Tieren, Abfall und dem betäubenden Duft der Räucherstäbchen, die vor beinah jeder Tür glommen. Nach zehn Jahren im Mondtempel, dessen Stille nur der Wind und das Meer eingeklammert hatten, fühlte Kanemô sich überwältigt. Der Berg schien über ihr zusammenzustürzen …

„Meine Herrin.“

Sie spürte Sagriks kleine, dicke Hand auf dem Rücken und zuckte zusammen. Er zog die Hand sofort zurück.

„Ihr solltet etwas zu Euch nehmen und Euch ausruhen. Erlaubt Ihr, dass ich Euch zu einer Freundin führe?“

„Einer Freundin?“, echote sie und folgte mit dem Blick seinem Fingerzeig in die Tiefe, aber sie sah nichts als ein Gewirr aus Balkonen, Treppen, Brücken und Höhlengängen.

„Ja, eine sehr vertrauenswürdige Person. Wir können uns ihrer Gastfreundschaft sicher sein.“ Sagrik beugte sich zu ihr vor. „Ab jetzt werde ich Euch nur noch meine Herrin nennen. Verzeiht mir diese Vorsichtsmaßnahme, meine Herrin.“

Mit einem verschwörerischen Zwinkern nahm er die Zügel ihres Esels und sie ritten nebeneinander durch die Menge. Mädchen wollten ihr Blumen in die Hand drücken, Gewürzhändler hielten ihr duftende Schalen unter die Nase, ein junger Mann, der halb elfisch zu sein schien, bot ihr sogar zwei Wolfswelpen an. Doch Sagrik scheuchte sie alle mit seiner Gerte weg wie Fliegen. Er selbst bekam Zurufe und freche Bemerkungen von stark geschminkten Frauen, die Kanemô mit ihren Blicken durchbohrten, ohne dabei ihr Lächeln zu verlieren.

Sie schoben sich bergab durch das Gedränge, bis sie an einen Bach gelangten. Durch einen Spalt in der Felswand drang geisterblasses Sonnenlicht. Zwischen Rankengeflecht saß ein kleiner weißhäutiger Junge und machte mit einem Kescher Jagd auf Frösche. Als er den Kopf hob, sah Kanemô, dass er kein Mensch war – sein Gesicht war zu flach und breit, die Augen vorgewölbt und schwarz wie sein krauses Haar.

„Odra, kon feig. Edra matara Liotan ner wom?“

Sagrik hatte so schnell und leise gesprochen, dass Kanemô nicht sicher war, ob es tatsächlich eine andere Sprache gewesen war. Doch die Antwort des Jungen bestätigte es: „Omer rikt?“

„Liotans utrigst Usgerda, Sagrik. Almet tosar irbethen kwendir vapromdir. Lut al preg kwendir.“

Der Junge stand auf, nahm seinen Käfig voller Frösche und verschwand im herabhängenden Dickicht.

„Gleich können wir uns ausruhen“, sagte Sagrik.

„Welche Sprache war das?“

„Gokragan, die Sprache des Kleinen Volkes.“

Kanemô beobachtete mit offenem Mund, wie er von seinem Esel sprang, seine Kleider zurechtzupfte und sich das farblose Haar auf dem Schädel glattstrich. Er schabte sich sogar mit den Absätzen den verkrusteten Schlamm von den Schuhen. „Ihr seid vom Kleinen Volk“, stellte Kanemô fest. „Ihr seid … ein Zwerg.“

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

23 thoughts on “Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

  1. Auch Kapitel 2 und 3 haben mir gut gefallen! Es ist irgendwie schön, dass Kanemô bereits jetzt ihre Reise antritt, und das nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste. Wie tiefsinnig ich die Fragen, die sie an sich selbst gestellt hatte, fand! Die Frage, was einem wirklich wichtig ist, stellen wir uns selbst viel zu selten. Man nimmt glaube ich zu oft hin, dass die Dinge irgendwie einfach so sind und hinterfragt nicht unbedingt, ob es das ist, was man will. Davor dann noch der Satz über Träume. Irgendwie habe ich da Gänsehaut bekommen…

    1. Liebe Mona,
      das freut mich. :) Und ja, wichtige Fragen vermeidet man vielleicht oft, weil die Antworten große Veränderungen verlangen könnten, und Veränderungen sind ja bekanntlich immer ein wenig bedrohlich…

  2. ..So mitten in der Nacht etwas spät dran aber wollte auch noch unbedingt was schreiben die mir im Kopf geblieben sind :)

    Als erstes hat mich die Beschreibung von Kanemos Haut als grünlich-golden schimmernd – natürlich nicht im negativen oder störend, aber ich stelle mir die Charaktere irgendwie immer als hellhäutig vor (sofern nicht klar anders beschrieben) und habe mich bei etwas ausführlicheren Beschreibung von Kanemo auch versucht mir ein Bild von ihr zu machen.
    Hast du hier auch Skizzen von den Charakteren angefertigt, wie du sie siehst? Wie beispielsweise bei Feenlicht? (..und wenn ja, können wir sie sehen? ;P)
    Allgemein war es interessant tiefer in Kanemos Inneres blicken zu können, so traurig sie durch das Verlassen des Tempels und Ihrer quasi-Schwestern-Novizinnen und der Tatsache, dass ihre aktuelle Perspektive schlicht aus “von Schädelberg zu Schädelberg flüchten” besteht, kommt doch auch Kampfgeist rüber wenn sie darüber nachdenkt, dass wie wichig ihr ihre eigene Gerechtigkeit ist.

    Die Entstehung der Gokra hat sich toll angehört, als könnte deren Geschichte allein noch genug eigene Bücher füllen. Ich bin gespannt wie viel Hintergrund zu den Gokra und ihren Nebelschöpfungen uns noch erwartet.
    Und wenn wir schon bei Gokra sind: allein durch diesen einen Satz mit Sagriks “verschwörerischem Lächeln” habe ich irgendwie ein Gefühl, dass seine Absichten nicht so klar sind, wie sie bisher scheinen – oder da zumindest noch etwas mehr dahintersteckt. Ist Kaneomo auf Dauer vielleicht nicht einmal sicher bei ihm?

    Außerdem muss ich mich Kevin bei dem Punkt der Weltbeschreibung & Formulierungen anschließen: alleine jetzt in Kapitel 2 und 3 wird die Umbegung so schön und lebendig beschrieben, der Schädelberg, den Kanemo und Sagrik betreten erscheint absolut magisch und ich habe ihn mir trotzdem sehr klar vorstellen können.
    Formulierungen wie “Nachgeschmack von Träumen im Herzen” oder das “Worte anprobieren wie Kleider” haben mich beim Lesen sehr glücklich gemacht.
    Genauso hatte ich denselben Gedanken wie Luc: der Berg mit seinen verschiedensten Bewohnern kommt wie ein “Melting-Pot” rüber und hat mich an Kesselstadt erinnert (hat nurnoch ein kleines stehlender-Scappa Crossover gefehlt ;p)

    Mir haben diese beiden Kapitel noch deutlich mehr gefallen als das erste und ich freue mich auf nächste Woche :)

    1. Lieber Chistian,

      das freut mich sehr! Oft sind die einstiege in Romane eine hakelige Angelegenheit, aber dann finden Autor und Leser sich in der Welt ein und alles wird besser. Das ist zumindest meine Erfahrung von beiden Seiten. Ich bin froh, dass es dir hier genauso zu gehen schien!
      Mir machen beim Schreiben auch die Beschreibungen am allermeisten Spaß – mehr als direkte Handlungen zu schildern. Denn das ist ja das Verführerische am Schreiben: dass man die Wahrheit irgendwie zu fassen bekommt und ihr ein Gehege aus Worten baut. Aber nur manche sehen sie darin, andere nicht … das macht es natürlich spannender und gibt umso mehr Autoren eine Daseinsberechtigung.

  3. Liebe Jenny!

    Freut mich sehr, dass wir schon vorab mitlesen dürfen – auch wenn ich es dann wohl bis zum Erscheinen des Buches kaum aushalte.
    Ich habe gerade alles bis hierher in einem Sitz gelesen und mich sehr gefreut, dass es sich offenbar (?) um eine Fortsetzung der Töchter von Ilian handelt – oder zumindest der dort beschriebenen Welt. Ansonsten will ich nicht viel anmerken – ich tue mir immer schwer, am Anfang schon etwas zu Büchern zu sagen.

    Ich mag deine Bücher schon seit Jugendzeiten und die Töchter von Ilian haben mich auf einer langen Reise begleitet und bereichert. Danke dafür! Ich bin wirklich neugierig, was dein neuer Roman bringen wird.

    LG Miriam

    1. Echt jetzt? Dass es direkt in der Welt von Töchter von Ilian spielen würde, hätte ich jetzt nicht unbedingt gedacht.. Klar, es gibt auch Elfen, die sich als entwickelter als die Menschen sehen, aber das ist ja schon fast Fantasy-Standard. Ok, in beiden Romanen hat der Elfenzauber auch mit Raum und Zeit zu tun. Zumindest Raum, da gab es ja diese Wasserwürmer. Es ist jetzt 2 Jahre her, dass ich diesen Roman las, und ich kann mich jetzt nicht mehr an alle Details erinnern. Siehst du da noch andere direkte Überschneidungen? Die Idee ist auf jeden Fall interessant.

      1. Die Geschichte von der Entstehung der Zwerge ist dieselbe. Deshalb gehe ich davon aus, und es würde mich, wie gesagt, freuen :)

    2. Liebe Miriam,

      ah, du hast es bemerkt! “Kalt wie Schnee” ist nicht direkt eine Fortsetzung in derselben Welt wie “Töchter von Ilian”, eher ein Phantomzwilling mit ähnlichen Mythen zu einer anderen, früheren Zeit. Und es ist definitiv auch eine Geschichte mit jugendlicheren Themen als “Töchter von Ilian”. Danach, im Winter, kommt dann ein Roman, der wesentlich “älter” ist, alle Figuren sind da dann um die 30 oder 300 … :D

  4. Moin Moin,
    es freut mich sehr, das ich wieder einen Roman, von dir zum lesen bekommen kann. Und vor allem freue ich mich, das ich auch wieder vor ab rein lesen kann, auch wenn das auch wieder irgendwie eine Folter ist, da ja wieder so viel Wartezeit dazwischen liegt. Segen und Fluch zugleich :-D
    An sich kann ich mich nur den anderen Leuten anschließen, daher werde ich nicht noch mal alles wiederholen (das mit der Sprache hast du ja schon erklärt, und fand ich faszinierend erklärt :-) )
    Ansonsten kann ich eigentlich nur sagen, das mit die Charaktere bis her glaubhaft rüber kommen, man kann sie verstehen, gedankengänge nachvollziehen und wirken jeder für sich und in seiner Rolle Sympatisch.
    Es gibt wieder ansätze, über die man mehr nachdenkt, Dinge die einem zum grübeln anregen, aber auch direkt den Spaß am Lesen. Man fängt an, und ist dann viel zu schnell unten angekommen (und jetzt kommt das Schlimmste!!! Ich muss warten! Warten bis ich ein Stück weiter lesen kann… und ich bin doch soooo ungeduldig XD )
    Ich bin jedenfalls gespannt und freu mich auch schon darauf, dann endlich den nächsten Roman von dir in den Händen zu halten :-)

    Grüßle Taroru

    1. Du hast recht: natürlich will man weiter lesen. Wobei ich dieses erzwungene Warten aber auch sehr spannend finde, da es einem Zeit gibt, Vermutungen anzustellen und die Fantasie spielen zu lassen. Und nach einigen Wochen hat man das Gefühl, schon sehr lange in einer Welt unterwegs zu sein. (Wobei ich eh langsam lese, auch wenn ich jetzt das fertige Buch in der Hand halten würde.)

    2. Hallo Taroru!

      Oh Mann, ich kenne Ungeduld nur zu gut, das ist meine Nr.1 Nemesis im Leben. Aber ich wollte auch nicht zu viel Text in jeden Post packen – ganz abgesehen davon, dass der Verlag nicht damit einverstanden wäre, mehr als ein Drittel des Romans freizugeben, da reize ich bereits die Toleranzgrenzen aus.
      Ich bin wirklich froh, dass Kanemô bisher sympathisch ist. Das war und wird noch eine Herausforderung … Halte mich auf dem Laufenden, ob du noch weiter mit ihr sympathisieren kannst, ja?
      :)

      1. Moin Moin,

        ich muss mich halt weiter in Geduld üben, aber ich schätze das wird mein Lebenlang ein Problem sein :-p
        Auch wenn ich es verstehen kann, das man nicht direkt alles Veröffentlich (würde bei manchen vielleicht auch den Reiz des Kaufens nehmen… )
        Ich freu mich einfach, das ich immer ein Stück weiter lesen kann, ein Stück weiter in die Welt eintauchen kann. (Und werde mich direkt auf das nächste Stück stürzen, das ich am Sonntag verpasst hatte)
        Und! Ich sympathisiere nicht nur mit ihr, sondern mit ihnen allen. Sie wirken alle glaubwürdig, was auch die Welt (diese Universum :-D ) glaubwürdig macht :-)

  5. Schön, dass wir noch bei Kanemô bleiben und ihre Entwicklung weiter verfolgen können. Hatte schon befürchtet, dass jetzt ein Sprung zu einer anderen Person folgen könnte.

    Kanemô kann einem schon irgendwie leid tun. In ihrem noch recht jungen Leben bereits zweimal komplett aus ihrem Umfeld herausgerissen zu werden (selbst wenn das Umfeld zweimal kein leichtes war, mit mürrischem Vater und strengem Tempel), und dabei alle bekannten Personen zu verlieren (selbst wenn es nicht viele waren), ist wirklich nicht leicht.

    Gleichzeitig ist es natürlich auch eine Chance für sie. Ich glaube, dass sie im Tempel auf Dauer auch irgendwie verkommen wäre. Sie ist zwar jetzt immer noch von jemand anderem in Abhängigkeit, aber zumindest erlebt sie auch neue Eindrücke, und es geht irgendwie voran.

    Gerade der Schädel-Berg ist wirklich faszinierend. So richtig stimmungsvoll geschildert, mit all dem Menschen-, Elfen- und Zwergengewusel, dem Lärm, den Gerüchen. Alles irgendwie verwinkelt und chaotisch, und dennoch viel sympathischer, so ohne strenge Hierarchie, bewachten Eingang und diktierter Ordnung. Irgendwie scheint das so eine Art Melting-Pot verschiedenster Wesen zu sein, der irgendwie funktioniert. Sicher nicht frei von Reibereien und Konflikten, aber dennoch ein Handelspunkt und Zufluchtsort für alle möglichen Außenseiter.

    Ganz am Ende haben mich übrigens die Sätze in der Zwergensprache fasziniert. Verstanden habe ich sie nicht, aber irgendwie klangen sie dennoch so, als ob sie einen Sinn ergeben könnten, mir einer Art Satzbau und Grammatik. Insofern stelle ich mir die gleiche Frage wie Kevin: Wie geht man vor, wenn man so was schreibt? Wäre es theoretisch sogar möglich, dass ich als Leser die Sätze wieder zurück entschlüsseln könnte (war mir nicht gelang), oder ist es eine reine Fantasie-Sprache, die nur nach Sprache wirken soll?

    1. Hallo Luc!
      Ich kenne es, dass man bei einer Figur bleiben will. Als Leser mag ich es oft gar nicht, mich in einen anderen Kopf hineindenken zu müssen, aber für einen Autor gibt es kaum etwas verführerisches. Das heißt, ich muss mich manchmal beim Schreiben echt zusammenreißen, nicht ständig zu wechseln. Bei Kanemô war es aber nicht schwer, denn ich wusste, was ihr noch widerfahren soll, und wollte unbedingt dorthin gelangen.

      Zur Sprache: Ich habe mir tatsächlich bei der Zwergensprache so etwas wie eine deutsche oder holländische Grammatik vorgestellt, die aber irgendwie zusammengestaucht wäre, verkürzt wie Englisch. Die Worte habe ich so verändert, dass sie K-lastiger sind, sie sollten so klingen, als würde man kleine Stöckchen im Mund herumschieben.
      „Odra, kon feig. Edra matara Liotan ner wom?“, fragt Sagrik, das war abgeleitet von:
      “Hallo, guten Tag. Ist die Mutter Liotan in der Wohnung?”
      “Omer rikt?”, fragt der Junge, das sollte “Und wer ruft/fragt” heißen.

      Also, keine richtige Sprache, mehr ein So-tun-als-ob. :)

      1. Danke für die Erklärungen zur Sprache. Gerade mit den direkten Übersetzungen, die du uns jetzt verraten hast, finde ich das ganze sogar noch faszinierender, und habe das Gefühl diese Sätze tatsächlich irgendwie in der anderen Sprache wieder zu erkennen.

        Und was Szenenwechsel betrifft: Versteh mich nicht falsch. Manchmal machen die durchaus Sinn, und auf lange Sicht können sie mir auch als Leser Spaß machen, wenn irgendwann alles zueinander geführt wird. Nur am Anfang ist es halt ein bisschen nervig, gerade wenn man eine Person schon kennt und da “drin” ist, und dann zu einer neuen Person wechselt, die man erst einmal noch kennen lernen muss. Später, wenn man bis die andere Person auch kennt, und sowieso dort auch gespannt ist wie’s weiter geht, fällt es mir meist leichter.

        P.S. Da du mal erwähnt hast, dass du auch solche technischen Sachen schnell verpasst: Beim Kapitel 1 hängt noch eine Antwort von mir fest, die noch auf Freigabe wartet.

        1. Ah, danke für den Hinweis! Ich glaube, jetzt sollte der Kommentar freigegeben sein.

          Das mit den Sprüngen zwischen Charakteren ist sogar eine noch größere Herausforderung, wenn ein Zeitunterschied dazwischen besteht, merke ich bei mir selbst als Leser. Seltsam, oder? Aber irgendwie ist man ungewillt, in Raum und Zeit zu springen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Wir sind vielleicht doch tief drinnen treue Seelen. ^^

  6. Es geht Schlag auf Schlag weiter. Die begonnen Fäden werden hier sehr schön weitergesponnen. Schön, weil deine Beschreibungen, insbesondere deine Naturbeschreibungen, mein Germanisten-Herz jedes Mal höher schlagen lassen. Manche Sätze muss ich mir einfach mehrere Male erlesen, weil sie entweder einfach schön sind oder weil ich aus ihnen so viel mehr herauszulesen vermute.

    Eine Sache, die ich mich beim letzten Mal schon gefragt hatte, ist die Bedeutung des Mondes. Du spielst hier sowohl mit der Sonne als auch mit dem Mond. Die Sonne verhalf dem Volk der Gokra zu seiner Existenz. Aber welche Bewandtnis hat es mit dem Mond? Schön ist hier auch der Satz Madurahans „Mutter Mond stehe dir bei und zähle deine Schritte.“ (Der Mond als Mutter?) Insbesondere wenn dann ein Satz folgt wie „Sie ritten, bis Wolken das Mondlicht schluckten…“ – es scheint, dass das Schicksal von Kanemô – dieser Satz zu Beginn der Reise – kein wirklich gutes Ende nehmen kann… (wie gesagt: es scheint…)
    Noch ist mir in dieser Hinsicht natürlich noch sehr viel unklar, aber ich freue mich, mehr darüber herauszufinden. Dass sie im Tempel aufgewachsen ist, birgt wunderbare Möglichkeiten, diese Geschichten um den Mond weiter zu vertiefen. Ich mag solche Mythen immer sehr gerne. Sie geben einer Geschichte ein Fundament und dienen an so vielen Stellen als Handlungsgrund.
    Daher gefielen mir Sagriks Ausführungen auch so formidabel. Zuerst fragte ich mich noch, woher er all dieses Wissen hat, bis er sich als Bibliothekar entpuppte. Dieser Berufsgruppe sagte man ja gemeinhin zu, solche Dinge zu wissen. Dass er letzten Endes dem kleinen Volk angehört fügt sich dann nur umso besser in seine Vita hinein. Ich hoffe, dass er nicht nur ein kleines Gastspiel in der Geschichte hat, da ich gerne noch mehr über ihn erfahren möchte.

    Was ich mich immer wieder frage: Wenn man für einen Fantasyroman eine eigene Sprache konzipiert, wie geht man dann vor? Woran orientiert man sich? Wie frei ist man wirklich in der Gestaltung, wenn man sich in einer Tradition von hier Zwergensprachen bewegt?

    Die Figur der Kanemô zeigt sich hier auch sehr viel deutlicher. Zunächst erscheint sie hier noch sehr oberflächlich und allzu romantisch veranlagt. Also wirklich ein Mädchen, wenn sie darüber fabuliert, wie sie sich ihren Weggang und die Ritter immer vorgestellt hat. Dass sie aber um einiges tiefgründiger ist, wird auch sehr schnell deutlich. Ihre Fragen zu ihrer eigenen Bedeutung in dieser Welt lassen für mich aber noch offen, welchen Weg sie wirklich einschlagen will. Sie will nicht hilflos und frei von Angst sein. Hat sie überhaupt einen ausgeprägten Überlebenswille? Wäre der Tod nicht an diesem Punkt fast schon das beste, was ihr passieren könnte? (Jetzt natürlich sehr pauschal und epikureisch gedacht!) Was hier aber relativ klar ist, ist, dass sie eigentlich (noch) kein Interesse am Thron hat. Sie verwirft diesen Gedanken selbst. Außerdem lässt sie ihr Diadem im Tempel zurück. Zwar nach kurzem Zögern, aber es verbleibt bei einer „Freundin“. Diesen Punkt im Kopf fällt es noch schwer, dass sich dies für Kanemô ändern könnte.
    Trotzdem bleibt Sagrik dabei, sie „meine Herrin“ zu nennen, als Schutzmaßnahme. Wäre es nicht sogar logischer, ihre Beziehung nach außen nicht hierarchisch darzustellen, um noch besseren Schutz zu ermöglichen? Andersherum verliert Kanemô somit auch in der Gefahr niemals ihren Titel, ihre Position.

    Du merkst, dass ich jetzt schon versuche, möglichst viel herauszulesen. Ich mache mir sogar Notizen (weil mein Kopf ansonsten einfach zu arg einem Sieb gleicht…)

    Zum Abschluss will ich noch ganz kurz auf deine Beschreibung der Wirklichkeit eingehen: „Es ist allgemein bekannt, dass die Wirklichkeit nicht überall gleichermaßen fest ist. Sie hat eine harte, solide Oberfläche […] und einen flüssigen Kern. Diesen flüssigen Kern nennen wir Nebel. Alle Zauberkunst, die wir kennen, zieht ihre Kraft aus dem Nebel.“
    Wow! Wunderschön formuliert. Und es lässt sich in viele Richtungen deuten. Einmal gibt es natürlich schon vor, dass die Zauberkunst in den verschiedenen Völkern unterschiedlich ausgeübt wird (dass sie zum Beispiel bei den Menschen für die Materialisierung von Bestien genutzt wird, lässt auch mal wieder tief blicken…). Andererseits kann man es auch, von der Geschichte weg auf den Menschen an sich beziehen.

    1. Lieber Kevin,
      danke für dein langes Feedback! Es ist wirklich ein Genuss, dir beim Lesen über die Schulter blicken zu dürfen. Du bemerkst so viel. Teilweise viel mehr, als ich beim Schreiben bewusst hineingelegt habe. ^^ Zu den Mysterien des Mondes und der Verehrung der Sonne habe ich mir z.B. gar nicht viel gedacht und bin nur auf das alte, naheliegende Konzept zurückgefallen, dass der Mond mit Weiblichkeit in Verbindung steht und die Sonne mit Männlichkeit.
      Einer meiner persönlichen Lieblingsideen war genau die, die du aufgegriffen hast: dass verschiedene Völker verschiedene Zauberweisen entwickelt haben und die Menschen die Schöpfung von Bestien perfektioniert haben. Zwerge sind in Fantasywelten oft symbolisch für ein früheres Menschheitsstadium, eine archaischere, weniger entwickelte Phase. Darum sind sie auf Illusionen, auf altertümliche Trug- und Verschleierungszauber spezialisiert. Denn das Ideal des modernen Menschen ist es ja, die Wirklichkeit aufzudecken und mit technischen Mitteln diese Wirklichkeit nutzbar zu machen; dagegen würden Zwerge,. d.h. frühere Völker, mit der Undurchdringlichkeit der Wirklichkeit eher spielen und einen ästhetischen Zugang dazu suchen. Die Elfen, die ja meistens für eine “höhere” oder weiter entwickelte Menschheitszeit stehen, wären in diesem Szenario den Menschen einen philosophischen Schritt voraus, da sie nicht mehr die Gegenwart mit Bestien, d.h. Technik und domestizierten Tieren beherrschen wollen, sondern sich aus dem Zwang der Zeit selbst befreien. Die Elfen also mal wieder als Alien-Hippies mit psychedelischer Überlegenheit. :D Wobei ich vielleicht schon verraten darf, dass die Elfen im Roman deshalb bei Weitem noch nicht die moralisch überlegene Rasse/Menschheitsepoche darstellen werden…

      Auf die Zwergensprache bin ich bei Lucs Kommentar etwas eingegangen, aber ich bin weit davon entfernt, mir eine richtige Sprache auszudenken. Es macht mir nur Spaß, mir zu überlegen, wie sich die Sprachen, die ich kenne, glaubhaft manipulieren lassen könnten.

      1. Liebe Jenny,

        ich finde diese Idee gerade so grandios, dass du den Völkern unterschiedliche „Entwicklungsstufen“ zugewiesen hast. Auf diese Weise bekommen sie als Volk jeweils eine Identität, die gleichermaßen Fluch und Segen für des Zusammenleben sein kann. Auf diese Weise spinnen sich zudem die Geschichten fast schon von selbst. Und ich warte nun sehnsüchtig darauf, auch die Elfen noch näher kennenlernen zu dürfen, um sie besser einschätzen zu können.

        Danke für diesen Einblick in deine Gedankenwege, die man sich beim Lesen ja ansonsten nur selbst zusammenreimen kann, ohne wirklich in Erfahrung bringen zu können. Dadurch fühle ich mich dem Roman und der Geschichte jetzt schon näher als allen Büchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe. :)

        Aber hast du denn vielleicht mal vor, eine Sprache so zu entwickeln, dass sie tatsächlich ihren eigenen Regeln folgt? Ich finde, dass das auch so wunderbare Möglichkeiten birgt, ein Volk darzustellen. Allein die Idee, die Zwergensprache stärker mit dem Plosiv K zu versehen, wodurch die Sprache für sich ja härter klingt, lässt meinen Kopf jetzt schon wieder Verbindungen herstellen. ;-)

        1. Hach ja, Sprachen erfinden! Es wäre schon verlockend, weil man ja dabei ganz viele Theorien aufstellen kann, wie bestimmte kulturelle Neigungen sich in Klang und Grammatik niederschlagen. Ich weiß gar nicht mehr, wer das behauptet hat – ich glaube, es war Heidegger, will mich aber nicht aus dem Fenster lehnen -, dass die Tatsache, dass man im Griechischen alle Verben und Adjektive nominalisieren kann, zu ihrer Philosophie geführt hat. Denn nur wenn man “Grünheit”, “Güte”, “das Sein”, sagen kann, kann man über Eigenschaften nachdenken wie über Dinge. Diese Idee fand ich immer bestechend.
          Und wer weiß, was eine K-lastige Sprache für kulturelle Ursprünge – und Auswirkungen – haben mag. Vielleicht klingt die Sprache kichernder und weist auf eine listigere Kultur hin? :)

          1. Es klingt zumindest sehr nach Heidegger, finde ich, aber könnte es jetzt auch nicht fest sagen.
            Aber dem Punkt kann und will ich absolut zustimmen.
            Da ich Philosophie und Germanistik studiert habe, hatte ich schon einen Faible für Sprache und ihre Ausgestaltungen! :)

  7. Während dem Kaffee trinken könntest du noch die Nachzügler-Kommentare von Angela und mir zu Prolog und Kapitel 1 lesen.

    Ich fang dann mal hier mit Lesen an, aber wie immer sehr langsam ;-)

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