13. Oktober 2021

Das Zeitalter der Drachen

Kapitel 4 – 5

Hallo, liebe Vorableser! Und weiter geht es mit Nirekas Geschichte. Ab hier nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Zu viel will ich nicht verraten, außer dass wir bald eine alte Bekannte aus dem Prolog wiedertreffen werden … Darauf freue ich mich schon! Ich hoffe, ihr seid auch neugierig. :)

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Kapitel 4

Ein wiederkehrender Traum verfolgte Nireka, seit ihre Mutter sie verlassen hatte. Es war schon viele Jahre her, aber selbst heute, da sie längst selbst Mutter hätte sein können, war sie in ihren Träumen noch ein Kind.

Ihre Mutter ging in einem bunt bestickten Festkleid vor ihr und Nirekas Vater her, barfuß auf den Felsen. Sie bewegte sich beschwingt und fröhlich, und je unsicherer der Boden wurde, umso mehr schien sie zu tanzen. Sie war eine wundervolle Tänzerin gewesen. Angeblich waren zu Feiertagen Leute von anderen Inseln gekommen, nur um sie zu sehen, und auch sie war von Untergrundfestung zu Untergrundfestung gereist, um ihre Künste zu zeigen und mit Geschenken heimzukehren.

Nireka bemerkte, dass Patinon neben ihr strauchelte – er war alt, während ihre Mutter so jung war wie damals, und Nireka musste ihn stützten. Ein unbestimmter Glanz sickerte aus dem Himmel, aber Nireka wusste, dass weder der Morgen graute noch der Abend dämmerte. Ihre Mutter stieg zu einer Bucht hinab, und Nireka wollte sie warnen, nicht weiterzugehen, denn sie ahnte Unheil. Doch kein Ton kam ihr über die Lippen.

Als sie das Meer erreichten, das in unaufhörlicher Wut nach den Steinen schnappte, hielt ihr Vater sie fest. „Bis hierher und nicht weiter.“

Da durchrann sie eine entsetzliche Erkenntnis: Vor ihr lag nicht mehr Tana, die Welt von Tag und Nacht, sondern eine andere Sphäre. Dort herrschte starre Ewigkeit. Ihre Mutter ging ins Wasser und wurde von den schwarzen Wellen umgeworfen. Sie schrie, als die schaumigen Mäuler zuschnappten, und ihre Schreie wurden zur Brandung, die an den Klippen widerhallte.

Nireka wollte zu ihr rennen und sie retten, aber sie glaubte eigentlich nicht mehr daran, dass sie noch zu retten war. Und selbst wenn – ihr Vater hielt sie so fest umklammert, dass sie sich nicht rühren konnte. Also sah sie im Tosen der Schmerzensschreie zu, wie ein Monster ihre Mutter fraß, das niemals satt sein würde. Und ihr Vater weinte.

Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich sterben werde. Manchmal dachte Nireka das, wenn sie morgens die Augen aufschlug und wusste, dass sie an der Oberfläche arbeiten würde.

Aber nicht heute. Heute erwachte sie mit einem Kribbeln vor Freude, wieder im Sonnenlicht zu sein, den Meereswind zu riechen und den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Sie schlüpfte aus dem Bett und zog sich an. Der Stoff, der ihre Haut streifte, erinnerte sie an Riwans Berührungen. Alles erinnerte sie an Riwans Berührungen. Als hätten seine warmen, starken Hände sie umgeformt und ihr eine neue Gestalt gegeben.

Nireka war groß für eine Frau in Ydras Horn, aber in seinen Armen hatte sie sich ungewohnt zerbrechlich gefühlt. Und zugleich viel beschützter, als sie sich mit einem Fremden hätte fühlen dürfen. Wie er sie gehalten, wie er sie geküsst hatte … als würden sie sich wirklich lieben. Als wäre es das Einfachste der Welt, sich zu lieben. Vielleicht war es das auch.

Am Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht war er mit der Händlertruppe von der Insel gesegelt, und er und Nireka hatten sich nur mit einem Blick voneinander verabschiedet. Sie hatten nicht darüber gesprochen, ob oder wann er je wiederkommen würde. Und es war ihr lieber so.

Nireka verharrte noch einen Moment in ihrem Schlafraum und hing der Erinnerung an seine Berührungen auf ihrer Haut nach, ehe sie sich sammelte und aufbrach.

Die Glocke des Aussichtsturms läutete, und die Feldarbeiter verstummten mitten in ihrem ausgelassenen Gesang. Nireka ließ die Hacke sinken und strich sich über die Stirn, die verschwitzt war trotz des kühlen Wetters. Wie die anderen blickte sie zu dem halb verfallenen Turm auf der höchsten Klippe an der Küste, wo kein Gras mehr wuchs und das Meer an den Felsen emporschäumte. Vor dem rosigen Glühen des Sonnenuntergangs konnte Nireka nur vage Sewain erkennen, der sich mit seinem Körpergewicht an das Seil hängte, um zu läuten. Einmal, zweimal, dreimal brachte der Junge die Glocke zum Erklingen. Dreimal Läuten hieß, dass Fremde nahten. Viermal hieß, sie waren bewaffnet. Zur Erntezeit hatten sie es gelegentlich mit Piraten zu tun, die auf der Suche nach Essbarem die Inseln angriffen, aber es war der dritte Frühlingsmond – noch gab es nichts zu ernten.

Sewain ließ die Glocke ein viertes Mal ertönen. Die Feldarbeiter liefen zusammen. Nireka kletterte auf einen Wagen voller Geräte und half anderen hoch, um sich für den Angriff zu wappnen. An den Seiten des Wagens waren Bögen und Pfeile verstaut, dazu Sensen und Äxte für den Nahkampf.

Die Glocke ertönte abermals. Der silberne Klang hallte Nireka in den Ohren nach, und für einen Moment war sie nicht sicher, ob sie sich das fünfte Mal nur eingebildet hatte. Aber dann ertönte die Glocke wieder. Und wieder.

„Zu den Schächten!“, brüllte Pasika, geistesgegenwärtiger als die anderen, und warf ihre Hacke weg, um loszustürmen. Sie war zwar klein und stämmig, aber auch flink wie ein Fuchs. Mit ihren vierzig Wintern war sie schon so manches Mal um ihr Leben gerannt.

Niemand kümmerte sich mehr um die Waffen. Alle flohen. Es gab zwischen den Feldern, Weiden und Obstwiesen von Ydras Horn dreiundzwanzig Schächte, die zu den Tunneln in die sichere Tiefe führten, sodass sie nie mehr als etwa hundert Meter entfernt von einem arbeiteten. Vielleicht würden sie es schaffen. Vielleicht würden wenigstens ein paar von ihnen es schaffen.

Nireka stand immer noch auf dem Wagen, obwohl jede Sekunde zählte. Aber sie konnte nicht die Flucht ergreifen, bevor sie sich nicht mit eigenen Augen überzeugt hatte, dass es stimmte. Sie sah zum Himmel auf, drehte sich im Kreis, und da, im verrinnenden Tageslicht über dem Meer, entdeckte sie das, was Sewain hatte Alarm schlagen lassen. Der Anblick stürzte ihr wie flüssiges Blei in den Magen.

Flügel, die gemächlich schlugen, aber so viel Luft unter sich wegdrückten, dass der lange, schmale Leib mit erschreckender Geschwindigkeit näher kam. Der zackenbewehrte Schwanz, der rhythmisch mitschwang. Der Kopf, das Maul – die Reihen krummer Zähne, die rötlich schimmerten vor dem Feuer in der Kehle.

„Nireka!“, schrie jemand. Es war Kani, die sich im Laufen zu ihr umdrehte.

Nireka sprang vom Wagen und holte das Mädchen ein. Die Glocke war inzwischen verklungen, Sewain musste durch den Schacht unter dem Wachturm geflohen sein. Ein paar Herzschläge lang war nichts zu hören als ihre knirschenden Schritte auf der Erde und ihr keuchender Atem. Die Luke erschien. Nirekas Sicht verengte sich auf die Öffnung im Boden, in die Leute aus allen Richtungen hineinsprangen. Nur noch ein paar Meter, dann hätte auch sie den Schacht erreicht. Nur noch …

Die Gräser bogen sich in einem heftigen Windstoß. Ein Schatten verdunkelte die Erde.

Nein. Nein. Noch nicht.

Hinter ihr erschollen Schreie.

Dreh dich nicht um, Kani, dachte Nireka. Renn weiter!

Sie sprang in den Schacht und sah aus den Augenwinkeln, wie Kani den Kopf umwandte, strauchelte und fiel. Sie selbst landete auf dem obersten Absatz der Treppe, die so verschachtelt war, dass sie fast sofort Schutz vor Feuer bot, das hinter einem aufflammen mochte. Sie wollte weiter hinabspringen, kreuz und quer immer tiefer hinab, in Sicherheit. Doch stattdessen richtete Nireka sich auf, streckte den Kopf aus der Öffnung und schrie: „Steh auf!“

Kani versuchte sich aufzurappeln, aber sie zitterte zu sehr. Erneut fegte Wind über sie hinweg, schleuderte Nireka Stöckchen und Gräser ins Gesicht. Ein Grollen ließ die Luft vibrieren. Fäulnisgeruch raubte Nireka den Atem.

„Kani, steh auf!“, brüllte sie.

Doch Kani verschränkte lediglich die Arme über dem Bauch, als könnte sie das Ungeborene jetzt noch schützen, während sie sich bereits in Erwartung des Feuers zusammenkrümmte.

Nireka wollte zu ihr laufen. Sie hochzerren. Oder sie umarmen, damit sie nicht allein sterben musste. Aber die Angst war stärker als sie. Die Angst schlug sie in ihren Bann. Gelähmt vor Entsetzen, blieb Nireka, wo sie war.

Der Boden erbebte, als der Drache landete, die Flügel gespreizt, sodass die Felder in seinem Schatten lagen. Die Glut der Sonne umriss seinen schlangenhaften Leib und brach sich auf seinen Schuppen, die in allen Schattierungen von Gold und Braun schillerten. Noch nie war Nireka einem Drachen so nah gewesen.

Sein fauliger, heißer Atem wallte herab, als er den Kopf neigte. Tiefe, ratternde Geräusche drangen aus seinen Nüstern. Er schien zu wittern. Irgendwo schrie jemand auf, aber nicht vor Schmerz, nur vor Angst.

Worauf wartete der Drache? Nireka sah, wie das Ungeheuer seinen Blick über die Frauen und Männer auf den Feldern schweifen ließ, die nicht schnell genug hatten fliehen können. Seine Augen waren entsetzlich. Nicht die eines Raubtiers. Sondern wie die eines Menschen. So schnell und berechnend schossen sie hin und her, dass kein Zweifel an seiner Intelligenz bestehen konnte. Das machte seine Grausamkeit schrecklicher als die unwissende Brutalität eines Tieres.

Er kostet unsere Panik aus.

Oft verbrannte ein Drache seine Opfer nicht und leckte dann die Asche auf, sondern fraß sie bei lebendigem Leibe. Oder jedenfalls Teile von ihnen.

Nireka schüttelte unwillkürlich den Kopf, als ließe der Lauf der Welt sich aufhalten, solange sie ihre Zustimmung verweigerte. „Oh, Kani“, flüsterte sie.

Kani hätte nicht zur Feldarbeit an die Oberfläche mitkommen müssen, aber sie hatte die Sonne so sehr vermisst.

Eine Stimme drang aus der Kehle des Drachen. Sie klang wie ein Erdbeben. Nireka hörte sie nicht nur von außen, sondern auch von innen, aus dem Vibrieren ihrer Knochen: „Unter euch ist einer, in dem die Geisterschatten leben. Gebt ihn mir morgen bei Sonnenuntergang, oder ich fresse euch alle.“

Der Drache hob die Flügel und zog den Kopf ein, dann stieß er sich vom Boden ab, dass Erdklumpen aufflogen. Nireka kniff die Augen zusammen und spürte den Luftstoß.

Im nächsten Moment traf das Licht der untergehenden Sonne ihre Lider, und von den Feldern erscholl das Schluchzen der Leute, die von der Schwelle des Todes wieder ins Leben gestoßen worden waren.

An diesem Abend versammelte sich ganz Ydras Horn auf dem Sonnendeck, um zu beraten, was zu tun war. Nireka versuchte sich zu ihrer großen Schwester Patinka, deren Kindern und dem Vater der Kleinen zu setzen, aber es war bereits so voll, dass kein Durchkommen mehr möglich war. Hunderte von Menschen drängten sich auf den halbkreisförmigen Sitzbänken zusammen, und Nireka musste mit einem Stehplatz weiter oben auf den Balkonen vorliebnehmen.

Die Gespräche verstummten, als Patinon aus der Kammer der Weisen trat. Er nahm auf dem steinernen Hocker Platz, der dem Hüter vorbehalten war, und wirkte dabei wie immer so bescheiden, als sei er sich seiner hohen Stellung nicht im Mindesten bewusst.

„Brüder und Schwestern“, begann er mit seiner ruhigen Stimme, die selbst in der dunkelsten Stunde einen zuversichtlichen Unterton behielt, „nachdem ich mir eure Beschreibungen angehört und in den Schriften nachgeschlagen habe, konnte ich den Drachen identifizieren. Sein letztes Erscheinen liegt siebzehn Jahre zurück. Davor tauchte er ungefähr alle drei Jahre auf. Oft wurde er nur gesichtet und griff uns nicht an. Es ist also davon auszugehen, dass er in der Zwischenzeit eine andere, einfachere Nahrungsquelle gefunden hatte, die jetzt versiegt ist. Darum fliegt er wieder an den Inseln vorbei und vergreift sich an uns. Vor siebzehn Jahren wurde seine Flügelspannweite auf fünfundzwanzig Meter geschätzt. Er scheint seitdem erheblich gewachsen zu sein. Sein Leib ist vergleichsweise schmal und sein Schwanz auffallend lang, seine Hörner sind nur gering ausgeprägt, und sein Schuppenkleid hat eine dunkelbraune bis schwarze Färbung am Rücken und eine goldene am Bauch. Nennen wir ihn also der Einfachheit halber wie in den Aufzeichnungen ‚den Goldenen’.

Bemerkenswert an ihm ist seine Gesprächigkeit. Seit dem ersten Eintrag zu ihm vor zweihundertdreiundneunzig Jahren hat er selten einfach angegriffen. Meist stellte er uns ein Ultimatum, bis wann wir sein bevorzugtes Opfer auszuliefern hatten, statt blindlings alle zu fressen, die ihm in den Weg kamen. So wie heute.“ Patinon runzelte die Stirn, als er fortfuhr: „Ich muss euch leider erzählen, dass oft verzeichnet wurde, dass diejenigen, die der Goldene wollte, freiwillig nach oben schlichen und sich heldenhaft für die Gemeinschaft opferten. Es scheint mir durchaus möglich, dass das eine Beschönigung ist und dass unsere Vorfahren dem Drachen in Wahrheit wiederholt nachgegeben und ihm seine Opfer ausgeliefert haben. Es müssen harte Jahre gewesen sein, in denen das Überleben von Ydras Horn davon abhing. Aber in den meisten Fällen verbarrikadierten wir uns.“

Ganz Ydras Horn hielt nun den Atem an. Denn das war die Frage, die alle sich stellten: Was würde geschehen, wenn sie sich dem goldenen Drachen widersetzten?

„Die Belagerung durch den Goldenen dauerte manchmal nur wenige Tage, ehe er aufgab“, sagte Patinon, und ein erleichtertes Aufatmen wehte durch die Balkone. Doch Patinon sprach weiter: „Zuweilen aber lauerte er einen ganzen Winter an der Oberfläche. Und so oder so verbrannte er unsere Felder und Bäume. Vollständig.“

Stille setzte ein, als hätte sich eine unsichtbare Hand um die Kehle eines jeden Bewohners geschlossen. Nireka ließ den Blick über die ausdruckslosen Gesichter ihrer Leute schweifen, die zu erschöpft waren für Verzweiflung oder Zorn. Die letzte Belagerung war kaum zwei Monde her. Sie hatten fast nichts als Fisch und Seetang zu essen. Ihre letzten Saaten waren gesät. Und nun war der Goldene gekommen und raubte ihnen das letzte bisschen Hoffnung.

Tokrim erhob sich, der Vater der Kinder von Nirekas großer Schwester Patinka. Er war einer der stärksten Männer von Ydras Horn und konnte einen Baumstamm allein vom Wald herschleppen. Als Kind hatte er einen Drachenangriff überlebt und Verbrennungen davongetragen – sein linkes Ohr und ein Teil seines Kopfes waren vernarbt. Man erzählte sich, er habe seitdem Angst vor Feuer und wolle weder in der Nähe des Herdes sitzen noch je eine Fackel halten, aber Nireka hatte ihn durchaus Fackeln halten und auch entzünden sehen, wenngleich er dabei nie glücklich gewirkt hatte.

„Wir haben gerade erst alles ausgesät“, begann Tokrim. „Unsere Früchte müssen erst noch wachsen. So wie die Nüsse an den Sträuchern. Und der Großteil der Mehlwurzeln. Und wenn die Bestie unsere Kastaniensetzlinge findet, werden unsere Kinder und Kindeskinder niemals Kastanien essen, denn es waren unsere allerletzten.“

Nireka biss die Zähne zusammen. Sie ahnte, worauf Tokrim hinauswollte. War das zu glauben? Sie starrte ihn finster an, aber Tokrim schaute nicht in ihre Richtung.

„Wenn wir die Zerstörung all dessen in Kauf nehmen, was wir gerade wieder aufgebaut haben“, sagte Tokrim, „dann müssen wir uns nicht nur fragen, wie wir dieses Jahr überleben. Sondern alle Jahre darauf.“

Grimmige Zustimmung erklang irgendwo, vereinzeltes Klatschen.

„Unsere Vorräte sind aufgebraucht!“ Tokrim sprach nun lauter, bestärkt durch seine Befürworter. „Wir würden es nicht schaffen. Das ist die Lage. Wir würden es nicht schaffen.“

Nireka erspähte Kani in der Menge, die blasser wirkte als sonst. Kedina stand neben ihr und sah Nireka an. Nireka senkte irritiert den Blick.

Dann schob sie sich nach vorn bis ans Geländer des Balkons. Normalerweise vermied sie es aus Rücksicht auf Patinka und ihre Kinder, Tokrim zu widersprechen, auch wenn sie oft anderer Meinung war als er. Aber nun ging es um mehr als die Harmonie mit ihrer Schwester.

„Danke, dass du unsere Lage zusammengefasst hast, Tokrim“, rief sie, bemüht, nicht zu zeigen, wie abstoßend sie seine Worte fand. „Es ist wahr. Wir haben unsere letzte Saat gestreut. Wir brauchen die Ernte. Sie darf nicht verbrennen.“

Nireka spürte, dass manche Leute sie mit Empörung ansahen. Kani blickte mit großen, blanken Augen zu ihr auf. Kedina starrte zu Boden. Die beiden mussten denken, dass sie den Vater der Kinder ihrer Schwester unterstützte. Patinon jedoch beobachtete sie entspannt. Ihr Vater kannte sie, und sein Vertrauen flößte ihr Mut ein.

„Aber wir haben noch eine Nacht und einen ganzen Tag, bis der Goldene wiederkommt“, sagte sie laut. „Genug Zeit, um die Saaten zurückzuholen!“

Gemurmel erhob sich. Nireka wartete nicht darauf, dass Gegenstimmen aufkamen, sondern fuhr fort: „Wir werden Verluste machen, das ist klar. Vieles ist nicht mehr aus der Erde zu klauben. Aber die Mehlwurzeln können wir hier unten in Erdfässern lagern. Wir müssen alle mit anpacken und so viel zurückholen, wie wir können. Wir müssen Holz schlagen, Gras mähen, die Schafe zusammentreiben und zu uns in die Festung holen. Die Lämmer schlachten wir nicht erst im Herbst, sondern jetzt. Im Morgengrauen können wir noch einmal mit dem großen Treibnetz auf Fischfang gehen. Der Seetang kann danach nicht mehr an der Sonne trocknen, also werden wir ihn einlegen.“

Tokrim war abermals auf die Füße geschnellt und unterbrach sie: „Das ist Wahnsinn! Selbst wenn alle mithelfen, wie viel können wir bis zum nächsten Sonnenuntergang einsammeln? Ganz abgesehen davon, dass das meiste nicht mehr essbar ist und nur verfaulen wird.“ Er wandte sich mit ausgebreiteten Armen an die Menge: „Denkt an eure Kinder! Wer seine Kinder liebt, der wird es so sehen wie ich: Der Goldene fordert nur einen von uns. Ein Leben. Oder viele, die sich qualvoll und langsam zu Tode hungern. Und selbst wenn wir irgendwie durchkommen, dann ohne die Schwächsten von uns, unsere Kleinen und unsere Alten.“

„Wir haben Zeit, um uns für die Belagerung zu wappnen“, widersprach Nireka. „Wir können es schaffen.“

Tokrim mahlte mit den Zähnen. Nireka wusste, was der Geliebte ihrer Schwester dachte: dass sie nicht mitreden sollte, weil sie keine Kinder hatte und nicht wusste, wie es war, jemanden auf diese Weise zu lieben. Aber auch wenn Nireka sich sonst davon verunsichern ließ – in diesem Moment wusste sie, dass sie für das Richtige einstand.

„Wir können nur verlieren“, hielt Tokrim zähneknirschend dagegen. „Und den Preis zahlen die, die am wenigsten dafür können.“

„Wenn wir unseren Zusammenhalt aufgeben, haben wir bereits verloren!“

Zögerliches Klatschen kam auf.

„Warum leben wir unter der Erde?“, rief Nireka. „Warum opfern wir unsere Besessenen nicht den Drachen, um ein bequemes Leben zu führen? Warum leben wir nicht gleich in Saus und Braus unter der Herrschaft eines Drachen und überlassen ihm unsere Nachbarn und Kinder zum Fraß, so wie die Feiglinge von Tahar’Marid? Wir leben nicht so, weil wir in Ydras Horn etwas bewahrt haben, was andernorts schon vor Jahrhunderten verloren ging: Würde. Dieses Opfer bringen wir den Drachen nicht. Unsere Würde haben unsere Vorväter mit ihrem Leben verteidigt. Unsere Würde haben unsere Mütter uns mit der Milch eingeflößt. Sie ist wertvoller als jeder einzelne von uns. Und ihretwegen steht jeder einzelne von uns unter dem Schutz aller. Wir halten zusammen. Weil wir Zwerge sind! Wir sind die Zwerge von Ydras Horn!“

Nach den letzten Worten hallte der Applaus durch das weitläufige Innere der Untergrundfestung. Viele erhoben sich und stießen Jubelrufe aus. Doch nicht alle wirkten zufrieden.

„Es ist leicht, schönen Worten zu applaudieren“, brüllte Tokrim über den Lärm hinweg. „Aber später werdet ihr weinen! Ich fordere denjenigen, der besessen ist, auf, sich zu erkennen zu geben und Ydras Horn zu retten!“

Aber seine Stimme ging unter im Chor der Menge: „Wir sind die Zwerge von Ydras Horn!“

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Kapitel 5

Innerhalb kürzester Zeit teilten sich die Bewohner von Ydras Horn in Gruppen auf, um von der Aussaat wieder einzuholen, was sich einholen ließ. Wer zu gebrechlich war, um mitzukommen, machte sich zu Hause nützlich: bei den Vorbereitungen, um das Fleisch der Lämmer zu räuchern und in Salz einzulegen, die eigentlich erst in zwei Monden geschlachtet werden sollten, und um Platz in den Lagerräumen zu schaffen. Es wurden auch große Kessel mit Eintopf angesetzt, damit jeder etwas zu essen hatte, der von seiner Schicht wiederkehrte.

Nireka schloss sich den Holzfällern an. Es war aberwitzig, im Dunkeln Bäume zu fällen, aber sie würden so viel Holz brauchen, dass sie nicht bis zum Sonnenaufgang mit der Arbeit warten konnten. Also würden sie mit Fackeln und Fettlampen losziehen. Bei den Tunneln sammelten sich die Gruppen, und Nireka ging kurz zu ihrer Schwester Patinka hinüber, die gerade mit Patinon sprach. Patinon blieb zu Hause, deshalb ließ Patinka ihren kleinen Sohn Tokrimas und ihre Tochter, die nach Nireka benannt war, beim Großvater.

Tokrimas und die kleine Nireka umarmten ihre Tante zum Abschied.

„Ich wollte auch mitkommen!“, sagte Tokrimas. „Aber Mama sagt nein!“

„Ist das so?“ Nireka runzelte die Stirn. „Soll ich sie überreden, dass du mit mir mitkommen darfst?“

Tokrimas grinste vor Schreck und versteckte sich hinter Patinon, und die Erwachsenen lachten. Nur Tokrim stand finster daneben. Auch er würde mitanpacken, obwohl er gegen den Plan war. Das immerhin rechnete Nireka dem Vater ihres Neffen und ihrer Nichte hoch an.

„Hast du nicht auch ein Geschenk für deine Tante?“, fragte Patinka ihre Tochter Nireka.

Das achtjährige Mädchen schien sich zu erinnern und nahm einen Lederbeutel ab, den sie mit einer Schnur am Gürtel befestigt trug. Sie öffnete ihn und streute feierlich eine Prise auf Nirekas rechte Schulter.

„Was ist das?“, fragte Nireka mit gespielter Ahnungslosigkeit.

„Birkenasche“, sagte die kleine Nireka. „Ich habe sie selbst hergestellt und dabei das Lied der traurigen Mädchen gesungen, und dann habe ich sie drei Monde in meiner Matratze gelagert, also sollte sie wirklich gut wirken.“

„Oh. Vielen Dank. Die wird mich beschützen, wenn der Drache sein Feuer spuckt.“

Die kleine Nireka nickte ernst. Es war ein Aberglaube, dass Birkenasche vor Drachenfeuer schützte. Dennoch zählte die Geste, und die meisten Leute ließen sich etwas Birkenasche von einem Mädchen aus der Familie auf die Schulter streuen, wenn sie an die Oberfläche gingen.

„Nächstes Mal komme ich mit und helfe“, versprach Tokrimas, der hinter Patinons Beinen hervorlugte.

„Du kannst auch hier unten helfen. Wollen wir das zusammen tun?“, fragte Patinon sanftmütig.

Nireka wandte sich an Tokrim: „Ich danke dir, dass du mithilfst. Du …“

Der Vater der Kinder ihrer Schwester drehte sich um, ohne sie anzuhören. „Lasst uns aufbrechen.“

Schweigend machten sie sich auf den Weg nach oben. Nireka bemerkte, dass die Leute sich argwöhnische Blicke zuwarfen – selbst die, die für Zusammenhalt und eine Belagerung gestimmt hatten. Es war traurig, aber auch verständlich. Nur einen von ihnen hatten Geisterschatten befallen. Nur einen von ihnen wollte der Drache. Die Leute fragten sich, für wen sie die Entbehrungen der kommenden Zeit auf sich nahmen.

Nireka wollte es nicht wissen. Sie wollte nicht wissen, ob ihre Haltung sich ändern würde, je nachdem, wer es war.

Sie ging hinter ihrer Schwester und Tokrim her, die unterschiedlicher nicht hätten aussehen können – Tokrim schwer, gedrungen und dunkel, Patinka schlank und groß und hellhaarig wie Nireka. Dass Patinka sich für Tokrim entschieden hatte, war Nireka immer ein Rätsel gewesen. Gewiss, Tokrim war stark und ein verlässliches Mitglied der Gemeinschaft. Aber in seinen Augen war nichts Sanftes, nur eine sture, mitleidlose Strenge. Sah Patinka nicht, dass sich dahinter Angst verbarg? Und Angst, die sich verstellte, war gefährlich. Sie machte Menschen äußerlich hart und innerlich schwach …

Aber wie hätte Nireka ihrer Schwester je davon abraten können, eine eigene Familie zu gründen? Patinka war acht Jahre älter als sie und hatte sie großgezogen, als ihre Mutter verschwunden war. Wegen dieser Verantwortung hatte Patinka mit dem Kinderkriegen lange gewartet. Mit zwölf hatte Nireka begonnen, sie dazu zu ermutigen, aber Patinka war noch drei weitere Jahre bei ihr und Patinon geblieben, ehe sie schließlich eingesehen hatte, dass Nireka ohne sie klarkam. Und selbst danach hatte Patinka weiterhin Nirekas Kleider geflickt. Nireka stand für immer in ihrer Schuld, und darum hatte sie auch das Gefühl, ihre große Schwester nie kritisieren zu dürfen.

Sie folgten dem Tunnel bis hinauf durch den verzauberten Baum und zogen durch den Wald bis zu ihren Pappel- und Birkenhainen. Die Arbeit lief besser, als Nireka gedacht hätte. Trotz der Dunkelheit wurde niemand verletzt. Sie schlugen die Bäume, dann zersägten sie die Stämme, um sie besser transportieren zu können, und schlangen Lederriemen als Tragschlaufen darum. Als alles getan war, brannten Nirekas Muskeln vor Erschöpfung. Einmal glaubte sie für einen Augenblick, Lichter zu sehen, die über die Klinge ihrer Axt und ihre Unterarme flirrten. Aber als sie blinzelte, sah sie davon nichts mehr. Der Fackelschein musste sie getäuscht haben.

Kurz vor dem Morgengrauen machten sie sich auf den Rückweg. Ihre Last war schwer durch den Wald zu bringen und noch schwerer durch den verwinkelten Schacht und den Tunnel, aber dann nahmen helfende Hände ihnen das Holz ab, und sie waren endlich zu Hause.

Sie aßen auf den Stufen der großen Treppe Kartoffeleintopf mit Lammkeule. Die Köche ermutigten sie, sich satt zu essen, und taten ihr Bestes, um gute Stimmung zu verbreiten. Die alte Farula, obzwar halbblind noch immer die beste Sithra-Spielerin von Ydras Horn, entlockte dem länglichen Zupfinstrument fröhliche Klänge und sang dazu. Aber der Schatten der Zukunft hing über ihnen. Wahrscheinlich würden sie lange Zeit nicht mehr so satt werden wie heute.

Kedina ging mit einem Holzperlenzähler an den Neuankömmlingen vorbei, um zu überprüfen, dass niemand fehlte.

„Sind alle da?“, fragte Nireka, als er bei ihr ankam.

Er nickte, ohne sie anzusehen. „Bisher sind alle Gruppen vollständig zurückgekehrt. Der Besessene scheint sich nicht weggeschlichen zu haben.“

Nireka hörte weniger Erleichterung als Sorge aus seiner Stimme heraus. Auch wenn Kedina sicher ebenso wie sie den Besessenen schützen wollte, egal wer es war, ließ sich doch nicht leugnen, dass sie von manchen Leuten mehr als von anderen erwarteten, sich doch für die Gemeinschaft zu opfern. Alte Leute und Männer standen unter größerem Druck, ihr Leben für die anderen zu lassen. Tatsächlich versuchten sich junge Mädchen mindestens genauso oft zu opfern, aber wenn es ihnen gelang, war das Entsetzen größer. Nireka spürte selbst eine hässliche Hoffnung in sich, dass der Besessene sich heimlich davonstehlen und das Problem dadurch gelöst würde, aber sie wusste, dass diese Hoffnung ein Giftstachel im Herzen war, den man immer wieder ziehen musste. In diesem Moment merkte sie Kedina an, dass auch er damit zu kämpfen hatte.

„Soll ich weiterzählen? Dann kannst du ein wenig schlafen“, bot sie an.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe bisher nur leichte Arbeit verrichtet, du harte. Du solltest dich ausruhen. Das Zählen übernimmt gleich Kani.“

Nireka nickte. Die unausgesprochene Wahrheit stand wie eine Mauer zwischen ihm und ihr. Ob auch er sie wahrnahm? Vielleicht wusste er überhaupt nicht, dass sie sich eine Zeit lang hatte vorstellen können, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie es konkret dazu kommen sollte, da sie ohnehin fast jeden Tag miteinander verbrachten. Und seine vorsichtigen Annäherungen, wenn es denn wirklich welche gewesen waren, hatte sie, in Schockstarre, stets ins Leere laufen lassen.

Auch jetzt ergriff sie die Flucht. „Dann gehe ich mal schlafen. Bis später.“

„Bis später, Nireka.“

Nach dem Mahl zerstreuten sich die Holzfäller, um sich kurz hinzulegen, ehe sie wieder aufbrechen würden. Nireka zog sich in ihr Quartier zurück. In der Ferne, hinter den Balkonbögen, schwebten die Sternkugeln des Sonnendecks und erzeugten den Eindruck eines nächtlichen Himmels, mit rasch treibenden Sternen.

Ihr Vater war nicht da. Er musste in der Kammer der Weisen in seine Nachforschungen über den goldenen Drachen vertieft sein. Sie stellte ihre Lampe auf dem Hocker neben ihrem Bett ab, löste ihren Gürtel mit der Axt daran und schnürte ihre Schuhe auf. Dann sank sie aufs Bett. Hinter geschlossenen Lidern sah sie Licht und Schatten flackern, weil sie ihre Augen so lange in der Dunkelheit angestrengt hatte. Licht … Danach sehnten sie sich alle am meisten, immerzu. Sie stellte sich Sonnenlicht vor, das über ihre Haut wanderte. Warm und kraftvoll, so wie Riwans Hände. Sie wollte sich der Erinnerung an ihn hingeben und alle Sorgen vergessen. Sie musste noch die Lampe löschen. Nur der Unwille, sich aufzurichten, hielt sie davon ab, es zu tun.

Ein Zischen erklang. Verwundert öffnete sie die Augen und sah gerade noch, wie eine Rauchfahne vom Docht aufstieg.

Nireka setzte sich auf. Nun war alles dunkel, lediglich durch die Öffnungen oben in der Wand fiel der matte Schein der Sternkugeln. Ihr Herz hämmerte schwer in ihrer Brust. Hatte sie geträumt? Hatte sie die Lampe gelöscht, ohne sich daran erinnern zu können? Sie fasste sie an; sie war geschlossen, ein Windstoß hätte die Flamme nicht ausblasen können. Das merkwürdige Licht kam ihr wieder in den Sinn, das sie beim Holzfällen auf ihrer Klinge und ihren Armen gesehen hatte. Eine Einbildung. Aber wie war zu erklären, dass die Lampe in ihrer Kammer von selbst ausgegangen war?

Sie stand auf, erfüllt von einer vibrierenden Nervosität. Mit zitternden Händen zog sie sich wieder an, nahm die Lampe und entzündete sie im Gang an einem anderen Licht. Dann eilte sie hinauf zum ersten Stockwerk. Sie wusste, dass sie nicht würde schlafen können und dass es auch nichts brachte, wenn sie sich herumwälzte und Grübeleien hingab. Da wollte sie sich lieber nützlich machen.

Gerade als sie oben ankam, sah sie Kedina mit einer Gruppe in einem Tunnel verschwinden.

„He, wartet!“ Sie holte die Gruppe ein. „Wohin geht ihr? Braucht ihr noch Unterstützung?“

Kedina musterte sie. „Ruh dich aus, Nireka.“

„Nein, ich bin nicht müde. Ich will helfen.“

„Wir gehen auf Fischfang“, sagte Kedina nach einem Moment.

„Dann komme ich mit“, sagte Nireka.

Kedina schien das für eine schlechte Idee zu halten, doch er nickte.

Sie folgten dem Tunnel zum Meer, bis sie in einer niedrigen Grotte ankamen, in der das Wasser in Pfützen stand und winzigen durchsichtigen Krebsen ein Zuhause bot. Hier bewahrten sie ihre Fischerboote und Netze auf. Jeder nahm sich eins der schmalen, mit Birkenpech bestrichenen Gefährte, die wie Laub auf den Wellen trieben und fast ebenso dünnwandig waren. Nireka hatte das Fischen immer mehr geliebt als die Arbeit an Land, weshalb sie sich in einem Boot wie zu Hause fühlte. Das Auslaufen war jedoch auch für erfahrene Fischer gefährlich, denn hier in den Buchten warfen sich die Wellen wild und unberechenbar gegen die Felsen. Man musste sichtbaren und unsichtbaren Gefahren ausweichen können und ein Gespür für die Strömungen haben.

An diesem frühen Morgen war das Meer ruhig. Sie paddelten nach draußen, wo sich um diese Zeit die Fischschwärme bewegten, und schleuderten einander die Leine des großen Netzes zu, um es zwischen sich aufzuspannen.

Ein zäher Nebel hing über dem Wasser, und die Sonne blieb eine Ahnung hinter aschgrauen Wolkenbänken. Es sah aus, als würde es später Regen geben. Nireka hielt die Position ihres Bootes zwischen den anderen, indem sie gelegentlich das Paddel benutzte. Doch im Nebel konnten sie einander nur schemenhaft sehen. Sie wartete darauf, dass das Seil zu ihr geworfen wurde, und ihre Gedanken begannen zu wandern.

Es hieß, wer Kummer in seinem Herzen faulen ließ und mit der Vergangenheit nicht abschließen konnte, den befielen Geisterschatten. Aber auf wen in Ydras Horn traf das nicht zu? Nireka hatte gewiss nicht mehr oder weniger Kummer als die anderen. Das Leben war hart. Das Einzige, was sie hatten, war ihr Stolz – der Stolz, sich den Drachen zu widersetzen und ihr Leben selbst zu bestimmen, frei und in Liebe zueinander. Und das war die Entbehrungen wert. Es war mehr wert als volle Bäuche, mehr als Sonnenlicht …

Nireka dachte diese Worte und fühlte, wie ihr Sinn zerfiel. Sie war sehr erschöpft. Und nun kroch Angst in ihr hoch.

„Hab’s!“, rief Geodas im Boot rechts von ihr. „Nireka?“

„Bereit!“, rief sie und blickte auf. Durch den Nebel flog ein Lederball auf sie zu, an dem ein Seil befestigt war. Er landete vor ihr im Wasser. Nireka paddelte näher, bis sie ihn ergreifen konnte. Und da, als sie sich über das Wasser beugte, sah sie ihr Spiegelbild: blass und verhärmter, als sie sich in Erinnerung hatte; nur die kurzen blonden Locken waren so kindlich wie eh und je. Ihre Augen lagen tief unter den Brauen, sodass man normalerweise nicht sehen konnte, dass sie nicht braun waren, sondern moosgrün. Doch jetzt sah man es. Denn ihre Augen leuchteten.

Sie blinzelte kräftig. Es war keine Einbildung. Licht flirrte in ihren Augen. Wäre der Morgen sonnig gewesen, hätte man meinen können, es sei nur das Schillern der Wellen, das sich in ihnen spiegelte. Aber das Meer war nahezu schwarz.

Nireka sank zurück, den Ball mit dem Seil fest umklammert. An ihren Händen räkelten sich Schatten. Schatten, die von nichts geworfen wurden.

„Hast du das Seil?“, hallte Geodas’ Stimme durch den Nebel.

„Hab’s!“, rief Nireka, als wäre nichts. Doch sie zögerte, das Seil durch die Ringe an ihrem Boot zu ziehen.

Eine tiefe, kalte Ruhe stieg in ihr auf. Sie war es, die von Geisterschatten befallen war. Sie war diejenige, die der Drache fressen wollte. Einen Moment lang hielt sie den Ball einfach vor der Brust, so fest, dass das Leder knirschte. Selbst wenn sie jetzt den Fang ihres Lebens machten und trotz des Regenwetters so viel Holz schlugen, wie sie nur lagern konnten, würden sie hungern und frieren und Monde in Dunkelheit verbringen. Menschen würden sterben. Ihretwegen. Nicht nur, weil sie den Drachen angelockt hatte, sondern auch, weil sie die anderen überredet hatte, sich ihm zu widersetzen.

Sie suchte nach einem Umriss im Nebel und rief: „Kedina?“

„Bereit“, kam die Antwort.

Sie warf den Ball in Kedinas Richtung. Das Seil platschte ins Wasser, und nach einem Moment begann es sich ruckartig zu entfernen. Kedina musste es eingeholt haben.

„Und jetzt in einer Reihe!“, rief Kedina.

Nireka hörte, wie die Leute zu paddeln begannen, um mit dem Netz die Fische in ihrer Mitte einzukreisen. Auch sie begann zu paddeln, um nicht mit Geodas zusammenzustoßen. Aber sie folgte nicht Kedina, der vor ihr war. Sie paddelte zur Seite, weg von den anderen.

Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebel sie unsichtbar gemacht. Sie legte sich das Paddel auf den Schoß, um keine Geräusche mehr zu verursachen, und ließ sich von den Wellen treiben.

„Nireka? Wo bist du? Nireka!“

Sie hielt sich den Mund zu, weil ihr Atem so laut ging. Die Rufe der anderen wurden immer undeutlicher. Dann hörte sie nichts mehr außer dem Plätschern des Wassers, auf dem ihr Boot davonschaukelte, und ihrem unregelmäßigen Atem hinter der Hand.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren weinte sie.

Es hieß, die Welt endete in allen Richtungen im Meer, und dahinter begannen die Sphären der Götter und Geister: das Chaos und die Ewigkeit. Das Meer war ein Zwischenort, und die Gegensätze, die in der Sphäre der Lebenden im Machtausgleich standen – Oben und Unten, Nord und Süd, West und Ost, Tag und Nacht –, begannen miteinander zu ringen, je weiter man aufs Wasser hinausfuhr. Darum war das Meer unberechenbar. Wolken und Wellen konnten umeinander schlingern. Tagsüber konnte es Nacht werden und in der Nacht taghell.

Nireka war den ganzen Vormittag durch den Nebel gepaddelt, um Distanz zwischen sich und Ydras Horn zu bringen. Sie wollte nicht, dass jemand nach ihr suchte und sie fand. Dass auch der Drache sie draußen auf dem Meer nicht finden könnte, schien ihr ausgeschlossen. Bis ein Gewitter aufzog.

Das wenige Tageslicht erlosch ganz in den Wolken. Kalte und lauwarme Winde begannen sich zu jagen und zerzausten die Wellenkämme. Das Boot schaukelte so, dass Nireka sich mit Armen und Beinen gegen die Innenseiten stemmen musste, um nicht hinauszufallen, aber es war so konstruiert, dass es sich immer wieder aufrichtete.

Die Wolken sanken tiefer, als wollten sie die Wellen plattwalzen. Einmal glaubte Nireka in der Ferne den Küstenstreifen auszumachen, aber sie musste sich auf das Auf und Ab des Wassers konzentrieren, und als sie das nächste Mal aufblickte, war schon nichts mehr zu sehen. Sie klemmte ihr Paddel im Boot fest und befestigte ihr Bootsseil an ihrem Handgelenk für den Fall, dass sie hinausgeschleudert wurde. Dann benutzte sie das Paddel, um Wasser, das immer wieder hereinschwappte, aus dem Boot zu schöpfen. Wilde Strömungen wirbelten sie im Kreis, bis eine Welle sich gegen andere durchsetzte und sie in die Höhe hob.

Unvorstellbare Wassermassen rollten unter ihr dahin. Fischschwärme oder Knäuel aus Seetang schienen in der Tiefe hin- und herzutreiben, fast so fern wie die Küste. Ein Blitz zerriss die Wolken. Einen Herzschlag lang wurde alles in gleißendes Licht getaucht. Nireka erkannte, wie tief der Abgrund am Fuß der Welle geworden war, die ihr Boot erfasst hatte. Weitere gigantische Wogen erhoben sich zu allen Seiten. Donner krachte, und Echos hallten durch die Täler der Wasserberge. Da öffnete die Welle ein schaumiges Maul und rollte abwärts. Das Boot drehte sich und rutschte in die Schräge. Es dauerte nicht lange, bis es von Wasserwänden umschlossen war. Nireka raste abwärts. Die Welle krachte über ihr zusammen.

Das Boot überschlug sich, verschwand. Sie stürzte durch tosende, brausende Finsternis. Der Ruck des Seils an ihrem Handgelenk riss ihr fast den Arm aus. Sie versuchte sich daran festzuhalten, doch die Strömungen zerrten sie in verschiedene Richtungen. Der Druck des Wassers presste ihr die Luft aus den Lungen. Luft. Wo war die Oberfläche? Wie durch ein Wunder stieß sie mit dem Kopf aus den Wogen, rang nach Atem, ehe sie erneut unter Wassermassen begraben wurde. Aber das Seil zog noch an ihr. Noch war sie am Boot befestigt, und das Boot würde immer an die Oberfläche treiben, oder?

Sie versuchte sich an dem Seil entlangzuziehen, aber es zerrte sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, und manchmal war sie sicher, dass es sie in die Tiefe zog. Schließlich ließ die Spannung nach, und sie wurde unverhofft gegen das Boot geschleudert. Es war wie durch ein Wunder noch ganz. Nireka klammerte sich daran fest, versuchte hineinzuklettern. Eine Welle kam von vorn und neigte das Boot, sodass es fast über sie stürzte, aber nur fast. Es gelang ihr, ein Bein über den Rand zu schwingen, und als das Boot sich wacker wie eh und je wieder aufrichtete, fiel sie hinein.

Eine ganze Weile tat sie nichts anderes, als sich festzuhalten, zu husten und Wasser hochzuwürgen. Ihre Lungen, ihr Bauch und ihr Hals brannten. Um sie herum wirbelten die Strömungen, aber der Donner klang schon ferner. Regen fiel in schweren Schleiern herab. Irgendwo brachen die Wolken auf, und ein Lichtstrahl bohrte sich ins tobende Meer. Und da sah Nireka etwas zwischen den schwankenden Wassermassen. Sie blinzelte. Von allen Entdeckungen seit gestern war diese nicht die schockierendste, aber gewiss die unglaublichste.

Aus den Fluten ragte ein Turm.

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

14 thoughts on “Das Zeitalter der Drachen

  1. Ah, ich war fast während der gesamten Lektüre überzeugt davon, dass das Kind, das Kani gerade austrägt, die Geisterschatten hätte. Weil noch niemand entdeckt hatte, um wen es sich handelte, und durch die Formulierung: “Unter euch ist einer, IN DEM die Geisterschatten leben.” Dat hab ich mich wohl geirrt. ;-)

    Das zentrale, gesellschaftliche Thema, das mich bereits in den vorigen Kapiteln so faszinierte, wird auch hier wieder sehr fesselnd weiter geführt. Das enorme Dilemma zwischen einer vielleicht rational gesehen durchaus logischen Entscheidung (ich opfere einen, um viele zu retten), und dem, was sich menschlich und moralisch richtig anfühlt (wir halten alle zusammen, kämpfen bis ans Äußerste, auch mit Verlusten, und opfern niemanden). Und das mit allen Finessen, die dieses Dilemma mit sich bringt: selbst Nireka zögert ja, ob ihre Moral ins Wanken kommen könne, je nachdem, um wen es sich handelt.

    Dass sie nicht bereit war, jemand anderen zu opfern, aber sofort bereit war, sich selbst zu opfern, spricht natürlich für einen sehr edlen Menschen. (Wobei man sich selbst ja eigentlich auch lieben sollte.) Natürlich hat es weniger negativen Beigeschmack, wenn jemand sich freiwillig selbst opfert, als wenn andere einen aufgeben. Andererseits ist es natürlich auch ein gefährlicher Weg: wenn sich die Befallenen immer selbst opfern, wird das vermutlich gesellschaftlich irgendwann sogar von diesen erwartet, und unterscheidet sich dann kaum noch von der direkten Opferung durch die anderen.

    1. Lieber Luc,
      ja, das mit der Selbstaufopferung ist ein zweischneidiges Schwert, wie du genau erkannt hast: Man setzt damit einen Standard für die Zukunft. Im alten Rom gab es eine Geschichte über eine gewisse Lucretia, die nach einer Vergewaltigung Selbstmord beging, und durch ihr “Vorbild” war der Druck auf Frauen recht hoch, sich umzubringen, um damit die Schande zu begleichen. Daran musste ich ein bisschen denken.
      Und wie du schon sagtest: Selbstliebe ist irgendwie auch was Gutes. Frühere Generationen haben das sicher anders gesehen, aber frühere Generationen hatten auch nicht so sehr wie wir heute mit den negativen Folgen von weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplexen und emotionaler Verwahrlosung zu tun. Nirekas Selbstaufgabe ist zweifellos heroisch, aber eben auch nicht im Einklang mit ihren eigentlichen Prinzipien. Sie lässt sich selbst im Stich, im Kleinen wie im Großen. Das wird im Lauf der Geschichte das Problem, an dem sie arbeiten muss.

  2. Oh man, was für eine Spannung und keine Möglichkeit sich gleich auf das nächste Kapitel zu stürzen! Aber macht nichts, Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude ……

  3. Liebe Jenny!
    Ich freue mich auch schon sehr auf das Buch. Schön finde ich das positive und gleichzeitig kluge Menschen- bzw Gesellschaftsbild, das dir wieder gelingt. Die Zwerge scheinen ja sehr solidarisch, fast schon anarchistisch zusammenzuleben. Ein bisschen fühle ich mich erinnert an Le Guines “The Disposessed”.
    Ich bin schon gespannt was es sonst noch zu entdecken gibt.

    1. Liebe Miriam,
      ah, das habe ich von Ursula K. Le Guin sogar hier liegen, aber noch nicht gelesen. Meine Vermutung ist, dass kleine Menschengruppen immer eine Art von Sozialismus oder Anarchismus praktizieren, in der sich persönliches Eigentum nur auf die basalsten Dinge beschränkt und der Rest gemeinschaftlich genutzt wird. Sicher gibt es auch immer Hierarchien, die sich in der Verteilung von Beute etc. zeigen, aber ansonsten ist Eigentum von Dingen, die man nicht unmittelbar am Körper trägt oder benutzt, schon eine sehr abstrakte Idee, die nur in der Anonymität einer Massengesellschaft funktioniert, würde ich meinen. Hach, aber über so etwas nachzudenken, macht einfach Spaß, darum ist Fantasy ja auch so ein spaßiges Genre. :D

      1. Das stimmt wahrscheinlich. Die Frage ist, wo die Grenze liegt, ab der man beginnt, seinen Besitz auch über persönliche Gebrauchsgegenstände hinaus abzugrenzen. Wie groß die Bevölkerung von Ydras’ Horn ist, brauche ich in dem Zusammenhang ja nicht mehr zu fragen, weil du das bereits im nächsten Stück beantwortest.
        Auf jeden Fall insgesamt eine sehr spannende Frage :)

    1. Oh, ich weiß jetzt auch nicht, ob ich mich schuldig fühlen soll. Sagen wir, man lernt eh besser, wenn man sich zwischendurch Pausen gönnt. :D Klingt gut, oder?

    1. Liebe Sabrina,
      genau das ist die Absicht, hehe. Aber nein, schon am Sonntag kommen die nächsten Kapitel auf den Blog! Es geht jetzt Schlag auf Schlag weiter. :)

      Alles Liebe,
      Jenny

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