1. August 2021

Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

Teil zwei – Kapitel 4 + 5

Guten Morgen, meine Lieben! Heute kommt eine ordentliche Portion Lesenachschub auf euch zu – zwei lange Kapitel über Laurien und Perakín. Nächste Woche wird es dafür etwas kürzer, aber auch recht dramatisch, oder sagen wir, romantisch … Ach, wo ist ein Emoji mit wackelnden Augenbrauen, wenn man es braucht? ^.^ Viel Vergnügen beim Schmökern!

*

*

4.

Am nächsten Morgen versammelten sich Laurien und etliche ihrer Krieger, Heganen und viele Rebellen im Hof rund um den Eisenturm. Andere schauten aus den Fenstern des Palasts oder sogar von den Dächern aus zu, wie die drei Weisen vom Brunnen sich dem Eisenturm näherten. Da das Palasttor offen stand und die Mauer zudem an etlichen Stellen eingebrochen war, kamen auch noch Schaulustige aus dem Volk dazu, die sich freuten, dass der Zauberkessel von den Gelehrten des Elfenvolks vernichtet werden sollte.

Laurien meinte jedoch in der Menge, die auf die Palastmauern kletterte, auch feindseligen Blicken zu begegnen. König Sagamenon mochte seine Untertanen tyrannisiert haben, aber die Zauberkunst, mit der die Könige Ivenhalls Drachen und Werkatzen, Einhörner und Greife aller Art erschaffen hatten, war dennoch die Zauberkunst der Menschen gewesen; und sobald der Zauberkessel vernichtet war, würden nur noch die Hohen Elfen im geheimen Madgar Yhs wissen, wie man aus dem Nebel schöpfte. Laurien konnte verstehen, warum so viele Menschen ihrem Volk misstrauten. Viele behaupteten, die Hohen Elfen hätten nur gegen Ivenhall gekämpft, um selbst als die Mächtigsten aus dem Krieg hervorzugehen. Wahrscheinlich war das tatsächlich der Grund, warum die Zwölf Weisen vom Brunnen die Rebellion unterstützt hatten. Aber Laurien wusste, dass sie selbst aus anderen Gründen gekämpft hatte. Und nicht nur sie.

Bevor die drei Weisen den Eisenturm emporstiegen, wechselte Alarion noch ein paar höfliche Worte mit Heganen. Er wünschte ihnen Erfolg und sie bedankte sich, lauter Floskeln, die keiner der beiden wirklich ernst meinte. Laurien kannte Heganen gut genug, um zu bemerken, wie zögerlich sein Umgang mit den Weisen vom Brunnen war. Hatte er die jahrhundertealte Zauberkunst der Menschen beenden wollen, als er die Rebellion begonnen hatte? Oder hatte er sich lediglich dazu bereit erklärt, weil er damit die Unterstützung der Elfen gewann? Kamen ihm erst jetzt Zweifel, da er gesiegt hatte und begriff, dass er den Zauberkessel zu seinen Gunsten nutzen könnte, wenn er die Königstochter fand? Dass Laurien Letzteres mittlerweile überhaupt für möglich hielt, beunruhigte sie.

Schließlich stiegen Alarion, Gajadis und Niran den unheimlichen Eisenturm hinauf, der sich scheinbar endlos in den Himmel bohrte. Die anderen sahen ihnen nach, wie sie im Innern des Pfeilers verschwanden und weiter oben wieder auftauchten, wann immer die Treppe ein Stück außen entlangführte. Laurien hätte viel dafür gegeben, in diesem Moment in Heganens Herz lesen zu können.

Sie standen noch alle um den Eisenturm, als Fürst Githeons Sohn Gerothen in Begleitung einiger Ritter seines Vaters aus dem Palast gelaufen kam.

„Wir haben sie gefunden!“, rief Gerothen und schwenkte ein Papier. Er schob sich durch die Menge und fasste Heganen stürmisch an den Armen. „Die Königstochter. In diesem Brief aus den geheimen Archiven Sagamenons steht, dass sie in einem Mondtempel am Nordmeer ist.“

Heganen nahm den Brief und überflog ihn. „Euer Blut ist rein und unschuldig“, las er leise vor. „Unser tiefster Dank für Euer großzügiges Entgelt. Damit ist für mehr als den Schutz und den Komfort Eures Blutes gesorgt.“ Er blickte auf. „Wenn hier nicht von der Prinzessin die Rede ist, dann von einem Bastard des Königs.“

„Einem weiblichen Bastard, weil die Absenderin eine Hohepriesterin des Mondes ist. So oder so, eine Tochter vom Blut der Könige von Ivenhall!“, rief Gerothen mit funkelnden Augen. „Ich bin bereit, sofort aufzubrechen.“

Heganen nickte, dann umarmten die beiden sich.

„Viel Glück!“, wünschte Heganen. Und es klang nicht so, wie er es kurz zuvor zu Alarion gesagt hatte.

„Erwarte mich in einem halben Mond wieder!“, rief Gerothen, dann verlangte er lautstark nach einem Pferd und rannte zu den Ställen, gefolgt von seinen Rittern. Die Rebellen grölten und klatschten.

Laurien schloss die Augen. Sie dachte an Perakín, der ebenfalls irgendwo in der Menge sein musste. Er empfand wahrscheinlich dasselbe wie sie und das war immerhin ein Trost.

Eine Art Fest begann auf dem Hof. Der Anlass war weniger der Auftrag der Weisen vom Brunnen als vielmehr Gerothens Aufbruch, um die Prinzessin zu entführen. Die Rebellen entfachten ein Lagerfeuer und brachten Fleisch und Maronen zum Rösten und zwei Fässer Bier. Im Lauf des Tages kamen immer mehr Menschen und Elfen dazu, angelockt vom Duft des Essens und der Musik.

Die Tatsache, dass eigentlich Perakín mit der Entführung der Prinzessin beauftragt worden war und sich geweigert hatte, lieferte Zündstoff für heftige Debatten. Es gab einige, die Perakín für seine Standhaftigkeit lobten und auf das Gesetz pfiffen, nach welchem König wurde, wer die Königstochter ehelichte. Die Mehrheit schien jedoch tatsächlich dafür zu sein, die Prinzessin zu entführen, damit kein anderer Anspruch auf den Thorn erheben konnte. Laurien hörte sogar den einen oder anderen beklagen, dass die Weisen vom Brunnen den Zauberkessel zerstörten – jetzt, wo bald königliches Blut in Gewalt der Rebellen sein würde und man die Schöpfung von Bestien für ihre Zwecke einsetzen könnte. Sie war schockiert, dass Heganen als neuer König für die meisten Rebellen offenbar keinen Bruch mit ihren Idealen darstellte. So sehr liebten sie Heganen, dass sie ihn auf dem Thron des Großreiches sehen wollten, das doch eigentlich zerschlagen werden sollte! Am schlimmsten war, dass Heganen nicht widersprach. Auch wenn er bisher behauptete, es sei nur eine Sicherheitsmaßnahme, die Prinzessin zu entführen.

Drei Jahre war Laurien ihm durch dick und dünn gefolgt und hatte nie an ihm gezweifelt. Aber ein Sieg veränderte die Menschen offenbar. Auch ihren Anführer.

Nebel begann vom Turm herabzuwallen. Die Weisen vom Brunnen waren also am Werk. Mehr als einmal hatte Laurien sich gefragt, wie das Nebelreich wohl aussah, das sich im Kessel öffnete. Und wie genau man mit ihm Zauber wirkte.

Die Sonne verschwand hinter den dicken Schwaden und mit der Dämmerung verdunkelte sich auch die Stimmung im Palast. Als immer mehr betrunkene Menschen feindselig über die Machenschaften der Hohen Elfen sprachen, hielt Laurien es nicht mehr aus. Sie entschuldigte sich damit, die Nachtwache am Stadttor auf der Südseite übernehmen zu wollen, und verließ die Menge.

Reif überzog die gepflasterten Straßen und Treppen unter ihren Füßen und knirschte bei jedem Schritt. Bald würde es Schnee geben. Ihr gefiel die Vorstellung, dass das vom Krieg zerstörte Land unter einer weißen Decke verschwinden würde. An den Frühling wollte sie nicht denken.

Es wurde dunkel, während Laurien durch die Stadt zum Südtor wanderte. Dort war die Brücke während der Belagerung stark beschädigt worden, aber inzwischen wieder repariert. Im Schein zweier einsamer Fackeln lehnte Erinian, der oberste Befehlshaber der elfischen Bogenschützen.

„Du wirkst traurig“, sagte er. Dabei war seine eigene Miene praktisch immer von einem unbestimmten Kummer überschattet. Er war ein stiller, ernster Mann mit langem Gesicht und zierlichem Körper, zehn Jahre älter als Laurien und in ihren Augen weiser, als sie am Ende ihres Lebens zu sein hoffte.

„Was soll ich sagen – ich vermisse das Großreich und einen starken König“, erwiderte sie sarkastisch.

Erinian lächelte sein dezentes Lächeln, das beinahe nur an seinen Augen abzulesen war. „Das scheint gerade vielen so zu gehen.“

„Was für ein riesiger Schwachsinn“, knurrte sie.

Erinian zuckte mit den Schultern.

„Wie du je Krieg führen konntest mit deinem Gleichmut, ist mir ein Rätsel“, sagte sie.

„Meine Rage liegt tief in mir.“

Sie lächelten beide, um nicht zu seufzen. Obwohl sie selten Vertraulichkeiten austauschten, zählte sie ihn und Savionne zu ihren beiden besten Freunden. Er, ebenso wie Savionne, hatte sie von Anfang an als Anführerin des Heeres respektiert, während der Rest der Welt in ihr nichts anderes gesehen hatte als eine Art Symbol: die junge, tragisch entstellte Schwertkämpferin, die an der Spitze der elfischen Truppen für ihre Rache kämpfte. Sie wusste selbst, dass die zwölf Weisen vom Brunnen sie wegen ihres Effekts und nicht wegen ihrer Fähigkeiten zur Befehlshaberin ernannt hatten – auch weil sie eine Nachtelfe war und die Weisen vom Brunnen damals versuchten, möglichst viele Nachtelfen für den Krieg zu gewinnen. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tatsächlich eine gute Befehlshaberin war, und Erinian hatte es ihr zugetraut, noch bevor sie es bewiesen hatte.

„Geh dich ausruhen“, riet sie ihm. „Oder feiere mit den Menschen, dass die Königstochter entführt wird.“

„In meinen Träumen.“ Er deutete eine Verneigung an, dann drückte er ihr die Schulter zum Abschied und ging.

Laurien konnte nicht widerstehen, in den Katzenrachen hinabzuspähen. An manchen schmalen Stellen, wo die Schlucht besonders steil abfiel, genügte ein Fehltritt, um in die Tiefe zu stürzen. Sie machte die Schemen von Tannen und Klippen aus, mehr nicht.

Dann warf sie einen Blick auf den Eisenturm zurück, der als unheimlicher Pfeiler über der Stadt aufragte, die obersten Säulen wie Klauen in den Himmel gekrallt. Noch immer quoll Nebel aus ihm hervor und breitete in der Dunkelheit eine schimmernde Decke über Ivenhall. Laurien hoffte, dass es den Weisen vom Brunnen gelang, den Zauberkessel zu zerstören – wie auch immer sie es bewerkstelligen wollten.

Schließlich wandte sie sich der Brücke zu, die sie bewachen sollte. Es war eine langweilige Aufgabe. Anfangs gelang es ihr, nicht an Perakín zu denken, weil ihre Enttäuschung über Heganen und seine Anhänger sie beschäftigte. Aber die Einsamkeit, die Stille und die Dunkelheit lockten ihre Tagträume hervor … und nach und nach wehrte sie sich nicht mehr dagegen.

Als er sich auf der Palastmauer neben sie gesetzt hatte. Wie wahrscheinlich war es, dass er sie zufällig entdeckt hatte? Die Vorstellung, er könnte sie gesucht haben, schloss sich wie eine warme Hand um ihr Herz … Aber er war betrunken gewesen. Bestimmt hatte er nur frische Luft schnappen wollen und war ihr unabsichtlich über den Weg gelaufen. Und doch versenkte sie sich in die Vorstellung, es sei anders gewesen.

Du bist besonders. Aber das weißt du.

Bitterkeit stieg in ihr auf. Ja, mittlerweile war sie besonders. Aber nicht für ihn. Nicht auf die Weise, auf die sie besonders sein wollte.

Der Nebel zog über den Himmel, verbarg den Mond. Laurien schloss die Augen und erlaubte sich, für einen Moment nicht beschämt zu sein. Unabhängig davon, wie unangemessen ihre Gefühle waren – wenn jemand es verdiente, heimlich verehrt zu werden, dann Perakín.

Als sie die Augen wieder öffnete, glaubte sie einen Moment, noch zu fantasieren. Sie blinzelte, aber es war keine Einbildung: Eine Frau kam über die Brücke des Katzenrachens geschritten.

Laurien umfasste ihren Schwertknauf und trat vor. „Stehen bleiben. Gib dich zu erkennen!“

Die Frau blieb stehen. Sie trug einen merkwürdigen hohen Hut mit breiter Krempe. Dann raunte sie etwas, das Laurien unmöglich verstehen konnte.

„Sprich lauter.“

Wieder das Raunen. Die Frau schien nicht lauter sprechen zu können.

Nach kurzem Zögern winkte Laurien sie heran: „Komm in den Feuerschein.“

Als die Frau in den Lichtkreis der Fackeln trat, erkannte Laurien, dass elfisches Blut in ihr floss, wenn auch verdünnt. Die Ohren liefen nur leicht spitz zu, aber der goldgrünliche Schimmer ihrer Haut und der Grünstich in den blonden Haarsträhnen, die unter dem Hut vorlugten, waren eindeutig. Ihr Gesicht wirkte merkwürdig. Einerseits ließ sich kaum bestreiten, wie hübsch sie war – von geradezu puppenhafter Niedlichkeit. Andererseits passte irgendetwas nicht. Als wäre der Schädel unter der Haut verzerrt.

Laurien vermutete, dass sie aus den Sümpfen stammte und auch zwergische Vorfahren hatte. Es kam nicht selten vor, dass Nachtelfen, die in den Menschenreichen oder Sümpfen lebten, Kinder mit Menschen oder mit Zwergen bekamen. Falls sie elfische Traditionen wahrten, verdingten sie sich oft als Zauberer, Wahrsager oder Heiler, so wie Lauriens Mutter es getan hatte.

„Seid gegrüßt“, raunte das Mädchen mit einer merkwürdig erloschenen Stimme im Dialekt der Leute vom Sumpfland. „Ich weiß, ich komme spät. Hoffentlich nicht zu spät, um eingelassen zu werden. Es ist kalt … ich bin viele Tage gewandert. Ich sehne mich nach einem warmen Lager. Ich komme den weiten Weg vom Sumpfland, weil ich von der Rebellion gehört habe. Ist es wahr, dass König Sagamenon erschlagen wurde und seine Leiche vor dem Palast gezeigt wird? Komme ich zu spät, um seine Leiche zu sehen?“

„Bist du nur deswegen gekommen?“

„Ich will es mit eigenen Augen sehen“, flüsterte das Mädchen. „Ich habe meine Gründe, mich über den Tod des Königs zu freuen.“

Laurien fragte nicht nach. Es reisten immer wieder Leute an, um sich vom Sieg der Rebellion zu überzeugen. Viele hatten einen Angehörigen oder Geliebten verloren und machten den König dafür verantwortlich, sodass sie nun zur Leiche des Herrschers pilgerten.

„Ich weiß, es ist spät, und nachts wird niemand in die Stadt gelassen“, sprach die junge Elfe weiter. „Aber ich bin müde und ich sehne mich nach einem Feuer und einem Bett.“

„Öffne den Mantel und dein Bündel“, sagte Laurien.

Das Mädchen tat wie geheißen. In ihrem Bündel waren nur Reste einer Wegzehrung und Kleider zum Wechseln. Unter dem Mantel trug sie ein knielanges, mit Bienen besticktes Gewand nach Zwergenart, wie man es heute nur noch selten erblickte. Aber sie hatte keine Kugeln voll Kriechglut bei sich und auch sonst keine Waffen. Nicht einmal einen Dolch.

„Und den Hut“, forderte Laurien.

Das Mädchen nahm den Hut ab und eine Flut herrlich gewellter Haare ergoss sich über ihre Schultern. Auch unter dem Hut versteckte sie keine Kriechglutkugeln oder andere Mittel, um Unruhe zu stiften.

Laurien winkte sie hinein.

„Vielen Dank“, flüsterte das Mädchen. „Ihr seid zu gütig! Ich danke Euch.“

Sie schlich an Laurien vorbei. Ein eisiger Luftzug schien ihr nachzuwehen. Laurien hörte, wie das Mädchen zusammenzuckte und erneut stehen blieb, um Laurien einen Blick zuzuwerfen.

„Ein Schatten frisst an deinem Herzen.“

„Was?“

Die Flüsterstimme des Mädchens wurde nicht lauter, aber sie schien tiefer zu werden: „Ein Schatten frisst an deinem Herzen. Du wirkst stark … aber innerlich bist du gebrechlich wie eine Sterbende. Du stirbst an einem süßen Gift, das du nicht aufhören kannst zu trinken.“

Laurien fröstelte. „Wer bist du?“, fragte sie.

„Nur eine Zauberkundige vom Volk der Elfen, die dies und jenes tauscht.“

Laurien spürte, wie die Fremde sie musterte. Wie sie ihre Verbrennung betrachtete.

„Hinter deinen Wunden verbirgt sich eine liebenswerte Frau. Wenn du sie zum Vorschein bringen willst – für eine Nacht kann ich es dir ermöglichen. Eine Nacht.“ Die Fremde nestelte an ihrem Hut herum und riss eine Kette quadratischer Kupferplättchen von der Krempe, die scheinbar zur Zierde gedient hatte. Sie faltete die Kupferplättchen übereinander, sodass sie wie ein winziges Buch aussahen, zwei Finger dick und einen Daumen lang. Sie reichte sie Laurien. „Öffne das Spiegelkabinett und begegne deinem eigenen Blick in jeder Reflexion. Und der, den du liebst, wird für eine Nacht die Frau in dir sehen, die er lieben kann.“

„Was?“, wiederholte Laurien.

Die Fremde lächelte und schloss Lauriens Finger um das Kupferbüchlein. Dann drehte sie sich um und eilte in die Stadt davon.

Laurien sah ihr nach, unfähig, sich zu regen. Das seltsame Geschenk lag schwer in ihrer Hand.

Eine Zauberkundige vom Volk der Elfen … als ob! Eine Zauberkundige hatte auch Lauriens Mutter sich genannt, wenn sie so zugedröhnt vor Violettenkraut gewesen war, dass sie sich nicht an ihren eigenen Namen erinnerte. Und dennoch schauderte Laurien bei der Erinnerung an die Worte des Mädchens.

Immer wieder nahm sie die gefalteten Kupferscheiben aus ihrer Gürteltasche, befühlte sie und wusste nicht, ob sie sie auseinanderklappen oder lieber in den Katzenrachen werfen sollte. Nein, natürlich wusste sie, was sie tun sollte. Sie konnte sich nur nicht überwinden, das Artefakt in den Abgrund zu schleudern. Falls es wirklich Zauberkraft besaß … aber warum hätte die Halbelfe lügen sollen?

Menschen, Elfen und Zwerge besaßen jeweils ihre ganz eigene Zauberkunst. Die Menschen deuteten die Mysterien des Mondes und der Sonne, um der Erde Pflanzen zu entlocken und Tiere zu züchten. Darum hatten die Könige von Ivenhall wohl auch Bestien aus dem Zauberkessel geschöpft.

Die Zauberlehre der Elfen drehte sich um den Strom der Zeit und das Fließende des Raumes, die beide eine Frage des Blickwinkels waren, und darum erlaubte der Brunnen in Madgar Yhs den Weisen angeblich auch, in ferne Zeiten zu blicken und gelegentlich weite Distanzen mit einem einzigen Schritt zurückzulegen.

Die Zwerge beherrschten eine verwandte Kunst – die Kunst, Traum und Wirklichkeit zu entzweien und aufs Neue zu verweben. Laurien erinnerte sich an Sagen über Zwergenzauber, die mit Illusionen und Betrügereien zu tun hatten. Zumindest erzählten sich die Elfen solche Geschichten über das Kleine Volk, das in der Vergangenheit viel mächtiger gewesen war als heute und nicht selten Krieg gegen die Elfen geführt hatte.

Es war denkbar, dass die Halbelfe Laurien einen Täuschungszauber des Kleinen Volkes geschenkt hatte. Aber warum? Aus Dankbarkeit? Aus Mitleid? Ja, Laurien wusste, dass sie großes Mitleid in anderen auslösen konnte.

Sie behielt das Artefakt.

*

*

5.

Die drei Weisen vom Brunnen blieben länger auf dem Eisenturm, als Laurien oder sonst jemand vermutet hätte. Die Nacht verstrich, dann der ganze nächste Tag. Unaufhörlich wallte Nebel vom Turm herab und tauchte die Stadt in frostigen Dunst. Abends begann man schon zu fürchten – oder zu hoffen –, dass es den Elfen nicht gelang, den Zauberkessel zu vernichten.

Laurien saß gerade mit ihren Kriegern beim Nachtmahl, als Schnee zu fallen begann, zart und flauschig wie Daunenfedern. Es war der erste Schnee des Jahres. Die Welt schien den Atem anzuhalten, um dem feinen Glockenhall der Flocken zu lauschen, die weit oben durch den Zauberkessel glitten.

Plötzlich dröhnte ein ohrenbetäubendes Fauchen durch den Himmel. Die Mauern des Palasts bebten. Laurien und die Krieger liefen in den Hof. Nur der Fuß des Turms war im Nebel auszumachen. Doch ein Gestank lag in der Luft, der sich Laurien ins Gedächtnis gebrannt hatte: Kriechglut.

Es roch nach dem brennenden Atem eines Drachen.

Panik brach aus. Was geschah dort oben? Windstöße trieben den Nebel auseinander, aber die Nacht war tief und schwarz. Sie sahen nichts. Aus der Stadt weiter unten erhoben sich Schreie.

„Feuer!“, kreischte jemand.

Laurien fuhr herum und sah in den Himmel, in den manche deuteten, aber sie konnte nichts erkennen. Mehrere Herzschläge lang starrten alle in die Dunkelheit.

„Ein Licht ist am Himmel aufgeglommen“, beharrten diejenigen, die in die richtige Richtung geschaut hatten.

Laurien war zu jung, um die Tage miterlebt zu haben, in denen König Sagamenons Herrschaft von Drachen gesichert worden war. Aber es gab ältere unter den Kriegern, die es wagten, das Wort in den Mund zu nehmen: Drache. Es hatte tatsächlich gerade nach Kriechglut gerochen, das konnte auch Laurien bestätigen. Aber sie zögerte, eins und eins zusammenzuzählen. Nicht nur hatten die Weisen vom Brunnen keinerlei Grund, einen Drachen zu erschaffen – sie waren dazu auch gar nicht in der Lage, da in ihnen kein Königsblut floss, oder?

Sie warteten bange Stunden im Hof und behielten die Stadt und den Himmel im Auge. Spät nachts lichtete sich der Nebel und die Sterne wurden sichtbar. Zwei wankende Gestalten stiegen den Eisenturm herab. Es waren Alarion und Niran. Alarions Sohn Gajadis fehlte.

„Wir haben ihn verloren“, sagte Alarion mit kaum hörbarer Stimme und scheinbar an niemanden direkt gerichtet. Ihr Blick glitt über Laurien, die Elfenkrieger, Heganen und seine Rebellen, als würde sie sie nicht erkennen.

Niran zog die Brauen zusammen, als sei er verärgert. Doch es war sein Versuch, damit das Entsetzen zu verbergen, das in seinen dunklen Augen glomm. Der junge Zaubergelehrte bemühte sich sichtlich darum, gefasst zu wirken. Er und Alarion ließen sich in die Speisehalle des Palasts führen und setzten sich ans Feuer. Laurien bemerkte, dass Nirans Hände zitterten. Obwohl beide seit mehr als einem Tag nichts zu sich genommen hatten, brachten sie kaum einen Bissen hinunter.

„Was ist passiert?“, fragte Heganen.

Niran senkte den Kopf. Fast fiel ihm das Brotstück aus der Hand.

„Der Zauberkessel ist zerbrochen“, sagte Alarion. „Es ist vorbei. Für immer.“

Ein paar verhaltene Dankesrufe und Seufzer der Erleichterung wehten durch die Menge, aber die Mehrheit schwieg. Alarion, die selbst dann kühl wirkte, wenn sie lächelte, betrachtete die Menschen mit unverhohlener Verachtung.

„Dein Sohn ist für uns gestorben“, sagte Heganen, als lese er den Gedanken von ihren Augen ab. „Wie tief wir in der Schuld der Hohen Elfen stehen, ist nicht in Worte zu fassen.“

Dann schwiegen sie.

Der Zauberkessel war zerbrochen, wie Alarion gesagt hatte. Ein endloser Zug von Schaulustigen erklomm am nächsten Morgen den Turm, um es mit eigenen Augen zu sehen. Laurien schloss sich ihnen nicht an; es reichte ihr, die merkwürdigen Splitter, Tropfen und Scherben aus Eisen zu sehen, die sie mitbrachten. Das Gerücht, die Weisen vom Brunnen hätten einen Drachen erschaffen, bevor sie den Kessel zerstörten, verbreitete sich in ganz Ivenhall. Aber es gab keine Beweise und Lauriens Meinung nach auch keinerlei Grund zu der Annahme. Sie war überdies mit anderen Gedanken beschäftigt.

Bei ihren Patrouillen durch die Stadt hielt sie Ausschau nach der Nachtelfe, aber sie sah sie nicht wieder. Dafür hatte sie das Gefühl, Perakín ständig über den Weg zu laufen. Sie stand morgens bei der Essensausgabe direkt hinter ihm, kam zur selben Zeit wie er in die Waffenkammer und beschloss zufällig, an derselben Stelle beim Wiederaufbau der Stadt zu helfen wie er. Als wäre es nicht genug, dass sie ihm bei den Ratssitzungen mit Heganen und den Abendmahlen begegnete! Er musste glauben, sie lauere ihm auf. Nachdem er ein paarmal versucht hatte, mit ihr ein höfliches Gespräch zu führen, und sie nur einsilbig geantwortet hatte, grüßte er schließlich nur noch knapp oder nickte ihr lediglich zu. Das war ihr einerseits lieber, andererseits zerriss es ihr das Herz.

Als sie an diesem Abend von den Scheiterhaufen vor der Stadt zurückkehrte – sie hatte die Wache als Vorwand genommen, um nicht beim Abendmahl dabei sein zu müssen –, wanderte sie ohne Eile durch die Straßen. Es war spät, und die Stadt wirkte verlassen, vor allem in den ehemaligen Vierteln der Noblen, die nun Ruinenlandschaften waren. Schneeflocken landeten auf ihrer Nasenspitze wie zarte Feenküsse, und plötzlich fühlte sie sich so einsam, dass sie fürchtete, ihre Tränen nicht zurückhalten zu können.

Sie kam an einer Villa vorbei, deren Mauer und Dach an einer Seite abgebrannt waren. Doch in einem riesigen Kamin prasselte ein Feuer und rauchte in den Nachthimmel hinauf und drei Rebellen saßen auf umgestürzten Säulen und spielten fröhliche Lieder mit einer Laute, einer Flöte und einer Trommel. Ihre Mienen verrieten Erschöpfung. Im Hintergrund befanden sich Schlafstätten, zwischen denen Männer und Frauen umherhuschten, um Verwundete zu versorgen. Die Musik übertönte das Stöhnen und Wimmern nur vage.

Laurien blieb stehen. Sie hatte es immer vermieden, sich um Verwundete zu kümmern; nicht unbedingt, weil sie den Anblick nicht ertrug, sondern weil sie ahnte, dass viele Verwundete ihren Anblick nicht gerade mögen würden. Ihr Gesicht würde ihnen vielleicht die Hoffnung nehmen.

Und dann entdeckte sie Perakín, der einen Eimer mit heißem Wasser von der Feuerstelle füllte, um damit einen Verwundeten zu waschen. Fast hätte Laurien aufgelacht. Es war, als führe das Schicksal sie immer wieder zu ihm, nur um ihr zu zeigen, wie liebenswert er war. Und wie unerreichbar.

Sie drehte sich um, hastete eine Treppe hinunter – und konnte doch nicht gehen.

Du bist besonders. Aber …

Wenn sie nur erfahren könnte, wie er das damals gemeint hatte. Sie ging davon aus, dass er sich nicht viel dabei gedacht hatte – oder jedenfalls nicht das, was Laurien in Anbetracht seiner Besonderheit empfand. Aber sie wusste es nicht mit Sicherheit und das brachte sie schier um den Verstand.

Sie dachte an das aufklappbare Kupferartefakt in ihrer Gürteltasche. Mehrere Atemzüge lang konnte sie sich davon abhalten, es hervorzuholen. Schließlich tat sie es doch. Sie hielt es in der Hand, fühlte seine erstaunliche Schwere. Wenn sie tatsächlich für eine Nacht ein anderes Gesicht haben könnte – nur damit sie noch einmal erlebte, wie es sich anfühlte, ohne Mitleid von ihm angesehen zu werden. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte ihr Leben so oft für die Rebellion riskiert. Und ihr Ziel war erreicht. Es gab nichts mehr, wofür sie kämpfen wollte. Nichts mehr, was dem, was ihr widerfahren war, irgendeinen Sinn verlieh. Alles, was sie jetzt noch wollte, war vergessen, und sei es auch nur für eine Nacht …

Sie hielt das Kupferartefakt in der Faust. Aber wie falsch wäre es, Perakín zu belügen? Wenn sie es tat, konnte sie ihm danach wirklich nie wieder unter die Augen treten. Das war es nicht wert. Sie holte aus, um das Kupferartefakt in die Dunkelheit zu schleudern.

In diesem Moment wurde am Lagerfeuer ein neues Lied angestimmt. Ihr Lied.

… Und alles, alles wär mir lieber

als der Vögel frohe Lieder …

Sie senkte den Arm, mit einem Mal jeder Kraft beraubt, und musste sich gegen die Mauer lehnen. Als sie über den Treppenabsatz spähte, saß Perakín bei den Musikanten und wartete wohl darauf, dass neues Wasser über dem Feuer zu kochen begann. Er hatte sich das Lied gewünscht.

Laurien öffnete die Faust. Blickte auf das zauberische Artefakt. Sah ihren Fingern dabei zu, wie sie die Kupferplättchen auseinanderfalteten, als hätte sie keine Kontrolle darüber. Das Licht des Kaminfeuers verfing sich auf dem Metall und schien die Plättchen zu verflüssigen. Laurien sah ihr Spiegelbild auf dem ersten Plättchen – ein Schemen mit tränenvollen Augen –, dann auf dem zweiten Plättchen, dem dritten, dem vierten … In jeder Spiegelung schien ihr Spiegelbild deutlicher und zugleich fremder zu werden. Als sie ihrem Blick im siebten und letzten Spiegelbild begegnete, war alle Vertrautheit fort. Ihr Gesicht schien zu leuchten. Laurien schnappte nach Luft. Ihr Atem schien sie von innen heraus umzuformen. Das Gefühl dauerte nur einen Herzschlag an. Was war passiert?

Sie starrte auf die Kupferplättchen. Ihre Spiegelung war wieder schwach und verschwommen, aber es bestand kein Zweifel, dass ihr Aussehen nicht mehr dasselbe war. Nein, kein bisschen.

Sie war … unversehrt. Sie befühlte ihre Wange, ihren Mund – tatsächlich, ihre Haut war weich und glatt, keine Spur einer Verbrennung! Mehr noch, sie war schön.

Schön wie die Halbelfe, die ihr den Zauber gegeben hatte.

Das üppige, gewellte Haar der Halbelfe fiel ihr über den Rücken, eher blond als moosfarben. Die Schatten in ihrem Gesicht hatten etwas Silbergraues, da sich in ihrem Hautton die grünlichen Nuancen einer Elfe mit den rosigen eines Menschen mischten. Ihre Nase war niedlich und flach, die Lippen wie eine helle Blüte und ihre Augen … Es waren Augen voll schwerem Blau wie salziges, stilles Wasser. Ungläubig tastete sie über dieses puppenhafte Gesicht. Es war falsch – das war nicht sie! Sie wollte sich zurück!

Sie versuchte sich zu beruhigen. Die Halbelfe hatte gesagt, der Zauber würde nur für eine Nacht anhalten. Nervös spähte sie um die Ecke. Perakín saß immer noch vor dem Kamin. Sie sollte verschwinden. Sich verstecken und abwarten, bis der Zauber verflogen war. Aber ihre Füße gehorchten ihr nicht … Sie stieg die Treppe wieder empor und über die eingestürzte Hausmauer, beide Hände an ihrem fremden Gesicht. Erst kurz bevor sie in den Lichtkreis des Kaminfeuers trat, fiel ihr ein, dass sie noch das Abzeichen der Befehlshaberin des Elfenheeres am Umhang trug, und steckte die Brosche eilig in ihre Gürteltasche zu dem Kupferartefakt.

Perakín sah auf und ihre Blicke trafen sich. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Er schien sie nicht wiederzuerkennen.

„Hast du dich verlaufen oder willst du helfen?“, fragte eine beleibte Frau mit dem rasierten Schädel einer Rebellin, die Bandagen in einem Kessel über dem Feuer auskochte.

„… helfen.“ Laurien schluckte. Die Stimme, die aus ihrem Mund kam, war viel dünner und heller als ihre echte. Sie fröstelte. Sie gefiel ihr nicht.

„Willst du heißes Wasser?“ Perakín ließ es mehr wie eine Feststellung als eine Frage klingen und füllte ihr bereits einen Becher. Er musste glauben, sie zittere vor Kälte. Sie ließ ihr Haar vor ihre rechte Gesichtshälfte fallen und strich unauffällig über die Haut – sie war immer noch glatt und ebenmäßig. Dann nahm sie den Becher und setzte sich neben Perakín.

„Danke.“ Was für ein Fiepsen!

Die Musiker hatten inzwischen ein fröhlicheres Lied angestimmt, und zwei weitere Krankenpflegerinnen, offenbar Frauen aus dem Volk, setzten sich zu ihnen, tranken heißes Wasser und wippten mit den Füßen.

„Bist du eine Elfenkriegerin?“, fragte eine der Frauen neugierig.

Laurien nickte. Ihre Kleidung war nicht zu verleugnen.

„Du siehst aus, als würde verschiedenes Blut in dir fließen“, bemerkte die dicke Frau mit dem abgeschorenen Haar.

Wieder nickte Laurien zögerlich. „Meine Vorfahren sind auch vom Kleinen Volk.“

Die Frauen stießen Pfiffe aus. Dann sprachen sie durcheinander: „Was für eine Seltenheit! Du bist wohl das Ergebnis einer verbotenen Liebe! Wo bist du aufgewachsen? War deine Mutter eine reinblütige Zwergin oder auch gemischt? Reinblütige Zwerge sieht man hierzulande nicht mehr oft …“

Die Frauen hatten so viel zu fragen, dass Laurien zum Glück kaum Zeit blieb, Antworten zu geben. Doch eine Gegenfrage konnte sie sich nicht verkneifen: „Wieso geht ihr davon aus, dass meine Mutter zwergischer Abstammung ist und nicht mein Vater?“

Die Frauen lachten; auch Perakín grinste.

„Nichts für ungut, aber“, sagte eine der Frauen, „die Elfen sind doch so groß und markant. Und ein Zwerg …“ Sie zeigte mit der Hand, bis wohin ein Zwerg einer Elfe reichte, und kicherte wieder. „Entschuldigung.“

„Ihr Menschen habt komische Vorstellungen davon, wie Männer und Frauen sich zu unterscheiden haben“, sagte Laurien lächelnd.

Darauf stießen sie alle an.

„Ich habe dich noch nie im Elfenheer gesehen“, mischte Perakín sich dann in die Unterhaltung ein. „In welcher Legion bist du?“

„Die Legion der Silberschwerter“, sagte sie kleinlaut. „Rang eins. Ich bin noch nicht lange dabei.“

„Es ist besser, nur das Ende mitzuerleben als nur den Anfang“, sagte er. „Es ist nobel von dir, hier aushelfen zu wollen. Oder schickt dich Laurien?“

„Laurien“, wiederholte sie. „Ich meine, sie hat uns ermutigt, die Augen offen zu halten, wo Hilfe benötigt wird, also … Sie hat mich nicht direkt geschickt.“ Sie biss sich auf die Lippe. Das war die Gelegenheit, ihn darüber auszufragen, was er über sie dachte.

Eine der Frauen fragte: „Kannst du uns vom Kleinen Volk erzählen? Wie leben die Zwerge heute? Und stimmt es, dass sie mit Zauberei bestimmen, wo die Wandernden Städte in den Sümpfen auftauchen und verschwinden?“

„Das Kleine Volk verfügt über einige Zauberei“, stammelte sie.

„Zum Beispiel?“, hakte eine andere Frau nach. „Welche Zauber hast du erlebt?“

„Um ehrlich zu sein, ich kenne mich mit elfischer Zauberei besser aus“, sagte Laurien.

„Ach? Kannst du in die Zukunft sehen?“

Sie nickte, beugte sich vor und bedeutete den anderen, ebenfalls näher zu rücken. Gespannt steckten sie die Köpfe zusammen. Laurien sah jedem von ihnen in die Augen, auch Perakín, der sie aus nächster Nähe anlächelte.

„Wenn ich euch so nah spüre“, raunte sie, „sagt mir mein elfisches Blut, dass einem von euch Gefahr droht. Etwas Unerwartetes wird passieren …“

„Was?“, fragte eine der Frauen. Sie machte ein so erschrockenes Gesicht, dass Laurien nicht widerstehen konnte: Sie schnipste ihr von unten gegen die Nasenspitze.

„Tataaa!“, sagte Laurien und zuckte die Schultern. „Tut mir leid. Weil ich keine Weise vom Brunnen bin, kann ich immer nur ein paar Augenblicke in die Zukunft sehen.“

Die Frauen lachten, wirkten aber nichtsdestotrotz ein wenig enttäuscht. Nur Perakín grinste ganz aufrichtig in sich hinein.

Die Musiker stimmten ein Tanzlied an und eine der Frauen sprang auf.

„So tanzt man in Ivenhall! Ich will tot umfallen, wenn nach diesem Krieg nicht mehr so getanzt wird! Komm, du wirst gebraucht, Junge.“ Sie zog Perakín auf die Beine. Im nächsten Moment hüpften sie über die Trümmer, die Frau plötzlich wieder ein junges Mädchen, Perakín ein tollpatschiger Bär. Alle lachten, auch Laurien. Diese Art von Freude, die plötzlich inmitten des Elends entstand, war ihr sehr vertraut. Nach großen Schlachten feierten die Unversehrten unerschöpflich, und wer genug entstellte Leichen gesehen hatte, war nicht appetitlos, sondern hungrig. Schlimmes zu sehen, machte die Leute nicht traurig, sondern stumpfte sie ab, und Schlimmes selbst tun zu müssen, machte sie nicht selten beängstigend ausgelassen, als müssten sie gegen eine Wirklichkeit rebellieren, in der zu leben unmöglich war.

Das Lied war ihr unbekannt, aber nach der ersten Strophe konnte sie den Refrain mitsingen. Ihre Stimme kam ihr zu flach und zu eng für das vor, was sie ausdrücken wollte. Was für ein seltsames Gefühl! Doch Perakín warf ihr Blicke zu, die alles Unbehagen vergessen ließen.

„Jetzt du“, sagte er, wies auf Laurien und reichte ihr eine Hand. „Zum Warmwerden.“

Die Frau hatte sich bereits atemlos wieder auf einen Schemel sinken lassen. „Na los! Ich pass auf, dass eure Schritte stimmen.“ Dann stimmte sie laut schmetternd ins Lied ein – und nahm sich, wie angekündigt, Freiheiten im Text, um sie singend auf all die Fehler hinzuweisen, die sie machten. Und sie machten viele.

Als würden sie über heiße Kohlen stolpern, versuchten sie den Anweisungen ihrer Lehrerin zu folgen. Perakín wirbelte sie im Kreis, hob sie hoch, wirbelte weiter mit ihr in der Luft – nun nicht mehr im Kreis, sondern eher eiförmig –, ließ sich von ihrem imaginären Rock, den sie schütteln sollte, rückwärts scheuchen, und beugte ein Knie, damit sie darauf steigen und wegspringen konnte. Laurien war in ihrem fremden Körper so tollpatschig, dass niemand, der bei Trost war, ihr abnehmen würde, dass sie eine Kriegerin war. Sie hatte kaum Muskelkraft und sie schätzte die Reichweite ihrer Gliedmaßen falsch ein. Dafür improvisierten sie und Perakín, fest entschlossen, sich von Unvermögen nicht aufhalten zu lassen. Und während der ganzen Zeit lachten sie und spürten den Atem des anderen am Hals und umschlangen sich auf immer neue Weise.

Abrupt endete das Lied. Laurien hätte schwören können, dass sie gerade erst angefangen hatten zu tanzen, aber sie keuchten beide und Perakíns Gesicht schimmerte vor Schweiß. Von den Krankenlagern erklang ein grauenvolles Röcheln. Die Frau, die ihnen den Tanz beigebracht hatte, eilte hin. Perakín folgte ihr.

Laurien sah zu, wie sie den Kranken aufsetzten. Er hatte eine Wunde in der Brust und hustete Blut. Nach einem Moment schnappte sich Laurien den Wasserkessel und kam ihnen zu Hilfe.

„Löst die Bandagen“, sagte sie.

Die Frau blickte verwundert über ihren Befehlston auf, tat aber wie geheißen. Eine vernähte Stichwunde kam zum Vorschein, um die herum die Haut beinah schwarz angelaufen war.

„Aufschneiden“, sagte Laurien.

„Wir haben die Wunde erst vor einer Stunde vernäht“, protestierte die Frau, war jedoch verunsichert.

Perakín fuhr mit einem zierlichen Dolch durch die Kerzenflamme neben dem Lager, dann schnitt er die Fäden auf. Ein Schwall dunkles, sirupdickes Blut quoll hervor. Der Verwundete hörte auf zu Röcheln.

„Alassia“, hauchte er. Nur diesen Namen.

Angespannt lauschten sie seinem schwachen Atem, und die Frau hielt seinen Kopf, damit das restliche Blut aus seinem Mund laufen konnte. Dann verstummte sein Atem. Sie warteten. Schließlich fühlte die Frau nach seinem Puls. Vorsichtig ließ sie ihn zurücksinken und schloss seine Augen. Er war tot.

Eine Weile umringten sie ihn, stumm vor Beklommenheit. Hinter ihnen stimmte ein Lautenspieler eine langsame Melodie an.

„Ich trage ihn nach draußen“, murmelte Perakín.

Laurien wollte mit anpacken, als er den Toten in die Arme nahm, und griff nach seinen Beinen.

Alassia. Am Ende zählte nur, wen man geliebt hatte.

Mehr noch als beim Tanzen ärgerte sie sich darüber, wie viel schwächer sie war als sonst. Wahrscheinlich wäre es für Perakín leichter gewesen, wenn er den Toten allein hinausgetragen hätte, anstatt zusehen zu müssen, wie sich Laurien abmühte. Aber er war zu höflich, um etwas zu sagen.

Ein Karren stand in der Dunkelheit, auf dem bereits mehrere Tote lagen, bedeckt von einer dünnen Schicht Schnee. Einer von ihnen schien noch ein Kind gewesen zu sein. Vorsichtig platzierte Perakín den Toten so, dass er nicht auf den anderen lag; eine Sentimentalität, die Laurien in diesem Krieg schon für verloren gehalten hatte.

Schweren Schrittes, als würden sie den Toten immer noch schleppen, kehrten sie nach drinnen zurück.

Die Frauen hatten das Lager bereits abgezogen und die blutigen Decken in Eiswasser geworfen.

„Geh schlafen“, riet die Dicke Perakín. „Es reicht für heute. Zu viel Heiterkeit ist ungesund.“

Er nickte, doch dann sagte er: „Ich bringe die Toten noch vor die Stadtmauer.“

„Jetzt?“ Eine der Helferinnen runzelte die Stirn.

„Ich komme mit“, hörte Laurien sich sagen.

Und bevor Perakín ihr einen Blick zuwerfen konnte, sprang sie über die eingestürzte Mauer nach draußen und begann den Karren zu ziehen.

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

8 thoughts on “Kalt wie Schnee, hart wie Eisen

  1. Moin Moin,

    etwas spät…. aber besser spät als nie :-D (ich schiebe meine Arbeit vor…. Blockschichten, lassen manche entspannte Tage einfach weiter nach hinten rücken…. )

    Zu deinem wunderbaren Kapiteln, ich bin immer noch beeindruckt wie beiläufig Informationen gestreut werden. Ich meine, man erfährt unglaublich viel, über dieses Universum. Das die Magie von diesen Völkern sich so unterscheiden, erscheint mir sogar logisch, hatte aber vorher nie drüber nachgedacht (wenn diese sich zusammen schließen würden, wären sie eine Unschlagbare Macht, aber sie erkennen es offenbar nicht, und beneiden offenbar den jeweils anderen? )

    Und dann habe ich in den Kommentaren von einem Happy End gelesen, ich finde das ist immer eine schwierige Sache, weil Happy End nicht für jeden das Gleiche ist, es hängt davon ab, wie die Erwartungshaltung ist, der Verlauf der Geschichte, und was dann am Ende bei raus kommt. Ich meine, für den einen ist ein Happy End immer, das das Paar Glücklich bis an ihr Lebensende ist (Märchen Klischee :-D ). Ich selbst habe aber auch schon durch aus Bücher gelesen, wo ich es tatsächlich nicht Verkehrt fand, das sie am Ende nicht am Leben waren. Von daher bin ich schon gespannt, was du als Happy End siehst, und vor allem, wo das hier bei ihnen allen Endet. Denn jetzt am Anfang der Geschichte, wo wir noch gar nicht alle Erzählstränge kennen, ist noch alles offen… am Ende kann man aber ganz anders über die Charaktere empfinden, und wünscht ihnen vielleicht etwas völlig anderes, als jetzt am Anfang (okay… ich glaube das war jetzt er viel durch einandere und Verwirrend XD I’m sorry XD )
    Ich gehe einfach mal weiter lesen ;-)

    Grüßle Taroru

  2. Ach Laurien, solche Verwandlungszauber gehen doch meistens nicht gut!
    Ich finde es sehr spannend, wie du ihr Ringen mit sich selbst beschreibst… Und wie sie am Ende doch ihrer Sehnsucht nachgibt.
    Und der Zauberkessel ist zerstört! Das hat mich wirklich überrascht und ich bin gespannt, wie sich das auf Kanemo auswirken wird!
    Liebe Grüße und danke für diese Einblicke in das Buch!

    1. Hallo Nati!
      Ja, Laurien hat sicher nicht die kluge, moralisch richtige Entscheidung getroffen. Aber ich kann sie so gut nachvollziehen. Das ist immer das Schlimmste!
      Interessant für mich war auch, wie das Ganze für Perakín sein wird, wenn er es erfährt. Das konnte ich mir anfangs gar nicht vorstellen. Manche Fragen beantworte ich mir immer erst, indem ich die Geschichte schreibe …

  3. Ich bin wirklich gespannt, was genau im Turm vorgefallen ist. Ich bin schon fast verwundert, dass Heganen den drei Elfen vom Brunnen immer noch erlaubte, den Kessel zu zerstören. Denn eigentlich scheint seine Idee, sich über Kanemô die Macht des Kessels einzuverleiben schon ziemlich fix zu sein. Erlaubte er die Zerstörung nur,, weil die Elfen einfach zu mächtig waren und er sich den direkten Konflikt (noch) nicht zutraute? Oder hielt er doch noch widerwillig mit etwas Ehre an seinem ursprünglichen Wort fest? Oder ahnte er bereits, dass die Zerstörung nicht so verlaufen würde wie geplant? Auf jeden Fall bin ich gespannt, was da im Turm jetzt wirklich vorgefallen ist, denn die Elfen scheinen auch nicht ganz mit offenen Karten zu spielen.

    Und zum Thema Spiegelkabinett: da schließe ich mich Carina und Kevin an, dass kaum etwas Gutes daraus entstehen kann, und ich gehe auch nicht davon aus, dass dieses “Geschenk” gut gemeint war. Auf Kevins Idee, dass auch die andere Elfe jetzt im Moment wie Laurien aussehen könnte, wäre ich nie gekommen, finde ich aber auch faszinierend, und würde mit den Spiegeln durchaus Sinn ergeben.

    So oder so, die Probleme sind vorprogrammiert. Mag Perakín Laurien jetzt, so wird sie sich immer sagen, dass es nur wegen dem falschen Körper war, auch wenn es womöglich immer noch wegen ihrem Charakter war. Und er könnte ihr wenn es rauskommt die Täuschung vorwerfen. Oder unnötiger Weise zwischen vermeintlichen zwei Frauen hin und her gerissen sein, die er in Wirklichkeit vielleicht beide aus genau dem selben Grund mag: weil er Lauriens Person mag.

    Auf jeden Fall scheint er immer noch gerne Menschen zu helfen, so wie damals mit dem Abwassersystem und jetzt mit den Verwundeten. Und auch von Laurien scheint er immer noch Gutes zu denken, wenn er davon ausgeht, dass diese die “andere” Elfin zum Helfen geschickt hat. Schade, dass Laurien keine wirkliche Gelegenheit fand, ihn über sich selbst mehr auszufragen. Vielleicht wäre sie überrascht gewesen, wie positiv er sie immer noch sieht, und wäre auf ihren neuen Körper jetzt gar nicht mehr angewiesen gewesen. Aber tja, in Romanen läuft ja selten alles glatt… das wäre ja zu einfach ;-)

    Ich bin eh bei deinen Büchern inzwischen schon recht vorsichtig, was das Hoffen auf Happy Ends angeht. Zumindest “vollständige” gab es bis jetzt sehr selten (wenn überhaupt?).

    1. Ich habe mich diesmal so sehr um ein Happy End bemüht! Im nächsten Roman übrigens auch. Ich glaube, das ist überhaupt die Herausforderung der letzten Jahre: Happy Ends zu erreichen, die sich nicht unrealistisch anfühlen. Es funktioniert nicht immer ^^

      Die Frage, welche Rolle der Körper und welche der Geist dabei spielen, Verliebtheit und Liebe auszulösen, ist wahrscheinlich so alt wie die Fähigkeit der Menschen zu sprechen. Meine Vermutung ist, dass das Geistige schon dasjenige ist, das Verliebtheit auslöst, der Körper allerdings als Hindernis im Weg stehen kann. So gemein es auch ist. Aber: eine klare Trennung zwischen Geist und Körper ist schwierig. Man entwickelt sich charakterlich irgendwie entlang seines Aussehens oder der Reaktionen, die das Aussehen bei anderen auslöst, und das Aussehen ist ja auch stark beeinflusst vom Charakter und den Lebensentscheidungen, der Bewegungsart, der Sprechweise, Mimik, etc., etc. Ganz sicher kann man wohl sagen, dass Verliebtheit und Liebe nie abschließend durch Eigenschaften des Geliebten erklärt und wegrationalisiert werden können. Die “Gründe”, warum es der oder die eine ist, sind unerschöpflich!

  4. Ich hatte gar nicht zu hoffen gewagt, dass der angekündigte Drache so schnell Gestalt annehmen würde! Wobei er ja bis jetzt kaum mehr als eine Andeutung ist … Zu gerne wüsste ich, was dort oben auf dem Eisenturm wirklich passiert ist. Ich habe das Gefühl, dass sich noch viele Geheimnisse um die Elfen, den Nebel und die Magie Ranken.
    Was den Zauber angeht, mit dem Laurien ihre Gestalt wechselt … bei dem Ganzen habe ich ein ganz schlechtes Bauchgefühl. Was das wohl noch geben wird?
    Das hier ist wahrscheinlich der vorletzte Beitrag, den ich online mitlesen werde, denn das Buch ist bereits vorbestellt. Aber acht Tage werde ich mich wohl noch gedulden müssen. :)

    Liebe Grüße
    Carina

  5. „… als Schnee zu fallen begann, zart und flauschig wie Daunenfedern.“
    Wenn ein Satz die ganze Szenerie auf den Trümmern beschreiben kann, dann wohl dieser. Die Gefühlslage Lauriens, ihre Schmachterei für Perakín, ihr geradezu schüchternes Verhalten ihm gegenüber, passt weder zu einer stolzen Befehlshaberin noch überhaupt zu einer Zeit des Krieges, selbst wenn sie gerade den Sieg über Ivenhall feiern. Zumindest kommt es mir so vor. Gerade auch, weil sie sich selbst der zweifachen Gefahr mit dem Spiegel aussetzt: Einerseits weiß sie nicht, was es mit dieser wunderschönen, wenn auch geheimnisvollen Frau auf sich hat. Es könnte eine List sein. Den Eindruck hatte ich auch direkt, als sich Laurien schließlich optisch in sie verwandelt hat. In meinem Kopf kam direkt die Idee auf, ob sie selbst dann vielleicht wie Laurien aussieht – welchen Unfug man auf diese Weise stiften könnte, gerade weil ihre Beweggründe für diese augenscheinlich freundliche Tat noch ungeklärt sind.
    Andererseits merkt sie selbst bereits, dass sie sich in diesem ihr fremden Körper nicht richtig fühlt. Und es bleibt sicher auch ungewiss, wenn der Zauber gelingt, ob sich Perakín in die fremde Gestalt verliebt oder in Laurien, die durch die zarte Haut noch durchschimmert. Das Ende des 5. Kapitels verspricht schließlich eine Zweisamkeit der beiden. Darauf bin ich natürlich auch mal wieder sehr gespannt: Wird er sich wirklich verlieben? Erkennt er Laurien im Gespräch wieder? Fragen über Fragen. Immerhin ist Laurien laut Perakín ja besonders. Und diese Besonderheit müsste er doch dann in ihr wiedererkennen können. Vorausgesetzt er fühlt mehr für sie als bloßes Mitleid.
    In mir kam der Gedanke auf, ob man auf die falsche Art besonders sein kann? Geht das überhaupt? Laurien meint zwar, sie wäre besonders, aber: „Nicht auf die Weise, auf die sie besonders sein wollte.“ Natürlich will sie für Perakín als Frau besonders sein, vor der er kein Mitleid empfindet. Ich habe eher ganz grundsätzlich über diese Frage nachgedacht: Was ist, wenn man etwas besonders gut kann, aber eigentlich nichts damit anfangen will, sondern lieber etwas anderes können will? Ist es in Ordnung, dieser natürlichen Begabung nicht nachzugehen, sondern lieber eine selbstgewählte zu kultivieren? Für Kant wäre es natürlich undenkbar; für ihn kommt es einer inneren moralischen Pflicht gleich, sich selbst zu vervollkommnen. Mal wieder musste ich bei diesem Roman an Kant denken. ;-)

    1. Lieber Kevin,

      wenn meine Geschichte bewirkt, dass du an Kant denken musst, kann ich mich zufrieden zurücklehnen. Hm, das mit der Pflicht gegenüber den eigenen Potentialen ist so eine Sache. Irgendwie bricht einem die Vorstellung schon ein bisschen das Herz, dass ein begnadeter Musiker, Sportler oder Virtuose gleich welcher Art das Handtuch wirft. Andererseits hat es etwas sehr Romantisches und Befreiendes an sich, wenn jemand sich vom Besonderssein abwendet, um die Gewöhnlichkeit und das bescheidene Glück, das damit verbunden ist, zu wählen. Unpragmatische Entscheidungen sind immer sehr beeindruckend. Darin blitzt eine Freiheit auf, die für Kant natürlich keine echte Freiheit wäre, aber zumindest eine Freiheit von gesellschaftlichen Erwartungen kann man da schon reinlesen.
      Ausnahmsweise hatte ich eine lebende Vorlage für Perakín. Ein Anarchist, mit dem ich ein paar intensive Gespräche über seine und meine politischen und allgemein weltlichen Anschauungen geführt habe. Er hat seine politische Haltung wirklich gelebt, sich von allem Prestigeträchtigen abgewandt und weitgehend versucht, außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu existieren. Im Zuge dessen hat er auch so manche Begabung aufgegeben, um eben anderen, vielleicht weniger beeindruckenden Tätigkeiten nachzugehen. Ich würde sagen, er war ein sehr freier Mensch, der seiner Vernunft nach gehandelt hat wie nur wenige. Also sind wir vielleicht nicht frei, wenn wir unseren “größten” Talenten nachgehen, sondern den “moralischen” Kompetenzen, die aber nicht unbedingt zu fehlerfrei gespielten Klavierstücken oder dicken Bankkonten führen.

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